Predigt 535

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Predigt vom 26.12.1985 - Pastor Schnabel - Hebräer 1, 1-3

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN!

Der Predigttext steht im Brief an die Hebräer im 1. Kapitel, wir haben ihn in der Lesung der Epistel schon einmal gehört:

"Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in den letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe."

Gott segne an uns dieses Wort!

Liebe Gemeinde!

Dieser Text ist wie ein Gemälde vom Himmelsgewölbe, von dem Glanz und von der Herrlichkeit.

Zu Weihnachten ist viel vom Licht die Rede und auch von der Dunkelheit. Denn das Licht bekommt natürlich erst seine Bedeutung im Gegensatz zur Dunkelheit.

Wenn Kinder eine Taschenlampe geschenkt bekommen, dann freuen sie sich darauf, dass es abends dunkel wird, damit sie die Wirkung dieser Taschenlampe recht erkennen können.

Wenn jemand in der Vorstellung lebt, dass sein Leben in Ordnung ist, dass in seinem Leben alles hell und klar und durchsichtig ist, dann wird er mit dem Licht des Evangeliums und mit Jesus Christus nicht viel anfangen können.

Wir sagen z.B. bei einem Problem, das wir haben: Da tappe ich noch im Dunkeln. Oder wir sagen: Wir wollen einmal Licht an die Sache bringen. Oder wir sagen wie in dem schönen Psalmwort: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

Da ist der Lebensweg gemeint, wo wir ja auch nicht immer klar sehen, wo wir manchmal die Erfahrung machen, dass wir durch’s finstere Tal geführt werden, wie es im Psalm 23 heißt.

Finster ist das Leben dann, wenn wir nicht wissen, wie es weitergeht; wenn wir uns keinen Reim auf das machen können, was uns widerfährt; wenn wir mit uns selbst nicht eins sind.

Wenn ich uneins bin mit mir, dann kann ich mich nicht leiden, dann ist ein Schatten auf meinem Leben; da habe ich keine Ruhe und bin hin und hergerissen. Das Leben ist dann verfinstert durch die Sünde. Der Begriff "Sünde" ist oft missbraucht worden, und indem er missbraucht wurde, wurde das verdeckt, was es eigentlich bedeutet, nämlich diese Grundhaltung des menschlichen Herzens, die darauf abzielt, dass ich mich selbst gegenüber Gott behaupte, dass ich sein Licht nicht auf meinem Lebensweg leuchten lasse, sondern dass ich die Hand Gottes von mir weise und sage: Ich kann schon alleine!

Aus dieser Sünde des "Selbstseinwollens" kommt das "Habenmüssen" und das Raffen. Und aus dieser Grundhaltung kommt das Böse, das Übervorteilen, das Rechthabenmüssen um jeden Preis.

Die Sünde kommt aus dem Selbstseinwollen. Jeder andere Mensch muss mir dann zwangsläufig zum Rivalen werden, zu einem, der mir im Wege steht, den ich beiseite räumen muss; wo ich mein Ich aufbauen muss, mich absichern und behaupten muss; wo ich mich verteidigen muss gegenüber dem anderen. Ich kann dann kein wirklicher Freund sein, weil ich die Welt als feindlich empfinde. Und ich falle auf jeden herein, der mir Sicherheit verspricht, weil mein Misstrauen dann grenzenlos wird, wenn ich mich selbst in der Welt behaupten will.

Mit der Sünde ist Finsternis beschrieben, in der wir leben. Die Sünde ist eine Grundhaltung die in den Abgrund führt, und die gerade Gefahrenstellen vernebelt und verdüstert, dass wir sie nicht sehen.

Wir Menschen sind Sünder. Das heißt, wir leben in dieser Dunkelheit, dieser Grundhaltung der Selbstbehauptung.

Aber nun sagt die Bibel - Gott sei Dank - sind wir aber auch gerecht und durchaus in der Lage, liebenswürdig und liebevoll zu sein, weil Christus in die Welt kam und in uns ein Feuer entfachte, das bis dahin nur als kleiner Funke vor sich hin glimmte und es nicht zur Flamme schaffte.

So alt, wie die Sünde des Selbstseinwollens ist, so alt ist auch die Sehnsucht der Menschen heil zu werden. Auch der ärgste Bösewicht träumt ja von dem hellen Licht, träumt davon, heil zu sein. Nur, dass er eben die Ganzheit auf einem Weg sucht, der eher in die entgegengesetzte Richtung führt. Heil sein heißt ja, dass wir ganz sind, dass wir vollständig sind.

Was wir "Liebe" nennen, hat ja mit dieser Sehnsucht zu tun, dass wir ganz sein wollen; eins zu sein. Und auch die Liebe zwischen Mann und Frau, dieses Einssein, ist ja ein Abbild dieser tiefen Sehnsucht, die in sich begreift: Ich bin selbst nur ein Teil des Ganzen. Ich brauche die Ergänzung.

Wer liebt, der spürt zugleich auch, dass er selbst nur ein Teil des Ganzen ist. Das ist letztlich der Antrieb der Menschen - auch außerhalb der Kirche und fernab von allem, was nach Frömmigkeit aussieht - der uns dazu bringt, dass wir Geselligkeit suchen, dass wir Vereine gründen, dass wir zueinander finden.

Aber unsere Gesellschaft krankt noch daran, dass wir in den Beziehungen zueinander nicht das rechte Maß finden; wo die Nähe du dicht und die Entfernung zu weit ist.

Am liebsten hat es merkwürdigerweise jeder Mensch, wenn der andere ihn liebt und ihm zur Verfügung steht, ohne dass er selbst von seinem eigenen Herzblut allzu viel abgeben muss. Und es gelingt dann eben nur zur Hälfte, dass Menschen eins werden, weil die eine Hälfte sagt: Du bist mein, aber ich bin nicht dein. Die Ganzheit der Liebe aber spricht: Du bist mein, und ich bin dein.

Und daher kommt es wohl, dass manche Menschen ihren Hund mehr lieben, als den anderen Menschen. Sie reden dann oft enttäuscht von anderen Menschen und sagen: Dieser Hund hängt an mir, der ist treu, das ist wenigstens noch Liebe. Aber mit Menschen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.

Diese Enttäuschung mit den Menschen stellt sich zwangsläufig da ein, wo ein Mensch falsche Erwartungen hat. Und wir merken das auch mit Menschen, die wir liebhaben. Man kann mit ihnen zusammen sein, und das kann sehr schön sein, aber es fehlt immer noch etwas Letztes, Tiefes zur Ergänzung. Ich spüre dann nämlich, dass in der innigsten Freundschaft und in der herzlichsten Liebe zwischen Menschen etwas fehlt zum Ganzsein. Kein Mensch kann mir das Heil, das Ganzsein, geben. Und da, wo ich’s von einem Menschen erwarte, überfordere ich ihn und mache das, was vorher in Liebe wachsen konnte, kaputt durch meine übertriebene Erwartung.

Ich glaube, dass es ein großes Problem zwischen Menschen ist, dass wir uns überfordern. Wir erwarten von dem anderen, dass er uns etwas gibt, was er nicht geben kann. Wir sind alle unvollkommen, wir sind Sünder. Und es ist ein großer Irrtum in der Welt, zu meinen, ein Mensch, der bekennt, dass er ein Sünder ist, dass der sich dadurch klein und schwach machen würde. Im Gegenteil, gerade da fängt die Stärke an, und die Stärke besteht hier in der Wahrhaftigkeit, zu erkennen: ich kann dem anderen ein Nächster sein, aber ich kann ihm nicht zur Ganzheit verhelfen.

Daran hat wahrscheinlich viel gutgemeinte Lebenshilfe gekrankt in den letzten Jahrzehnten, wo man so sehr auf dem Psycho- und Soziotrip war, wo man Menschen, die spürten: ich bin nur halb, ich bin nicht ganz, damit tröstete und sagte: Du brauchst ein Selbsthilfegruppe, du brauchst ein Kollektiv. Da sind noch andere, denen geht es genauso, wie dir. Und wenn ihr zusammenkommt, dann werdet ihr heil und ganz.

Das ist ein großer Irrtum, solche Gemeinschaft kann das Heil nicht schaffen, weil da Gott fehlt; weil das eine Überforderung ist, dass viele unvollkommene Menschen zusammen ein Ganzes ergeben und sich gegenseitig retten könnten. Es war gut gemeint, aber es hat nicht geklappt.

Um es in einem ganz einfachen, natürlich verkürzten Gleichnis zu sagen: Das ist so ähnlich, wie wenn man fünf kaputte Radios zusammen stellt in der Hoffnung, dass durch die Versammlung der kaputten Radios diese heil werden. Sie bleiben kaputt bis einer kommt, der sie repariert und sie einstimmt.

Für uns Menschen ist der, der größer ist als wir, Gott, der uns Jesus Christus schickt, und der uns das bringt, was uns zum Heil fehlt: Der uns heil macht, indem er uns zusammenführt mit dem Großen, Ganzen, Umgreifenden, von dem jeder von uns ein Teil ist. Und der uns auch erkennen lässt, dass wir Geschöpfe sind, und dass sich Gott unseren Bedingungen nicht beugt, die wir ihm stellen mit unserem Verstand. Es kommt viel Not, viel Zweifel, viel Glaubensunmut daher, dass wir Menschen meinen: Hier stehe ich, lieber Gott, und nun füge du dich meinen Bedingungen, dann will ich auch an dich glauben. So geht Glaube nicht. Unser Verstand ist wichtig in einem bestimmten Teil der Wirklichkeit. Es ist wichtig, Ordnung zu schaffen durch den Geist, durch den Intellekt. Es ist wichtig, Ordnung zu schaffen in einem Teil unserer Erfahrung. Es ist wichtig, Wissenschaft und Technik zu betreiben; dazu ist der Verstand und die Rationalität gut. Aber das ist nur ein Teil vom Ganzen.

Und wir haben die Sünde begangen, den Teil an rationaler Wissenschaft für das Ganze zu halten. Und wir leiden mächtig unter diesem Irrtum.

Christus ist gekommen, um das Ganze zu bringen und uns zu ergänzen. Und nur durch diese Ergänzung, durch den Geist Gottes, können wir eins sein mit dem Ganzen.

Das Singen und Beten, die wundersamen Geschichten, die Jesus erzählt und die die Bibel überliefert: seine Geburt, die Wunder, die er tut, die Menschen, die er heilt, seine Auferstehung, das sind alles Geschichten, die auf’s Ganze gehen. Geschichten, die das Abbild von Gottes Wesen in sich tragen und die wir in uns aufnehmen sollen, weil sie die Erfahrungen, die wir selbst machen, zusammenfügen und uns deutbar machen.

Wenn wir so eine Geschichte hören von der Geburt Jesu, wie Maria und Josef da umherirren und keinen Platz finden und dann im Stall landen, da schwingt so vieles mit, da werden Tiefen angerührt, da wird unsere Ahnung angerührt, die wir von Gott in uns tragen.

Wir sind in Christus eins mit Gott, mit dem Schöpfer des Weltalls und mit allem, was ist.

Seht die Zeichen unserer Zeit. Da sind einmal die Wissenschaft; diejenigen, die die Wissenschaft bis zum Ende treiben, die erkennen: alle Dinge sind relativ, sie sind Ausdruck von Energie. Sie sind Ausdruck vom Ganzen, von einem Ureinen. Seht auch Zeichen der Zeit darin, dass wir doch alle gedacht haben, wir seien die Herren der Welt. Dass hinter uns Jahre des Irrtums auch liegen, wo wir dachten, alles, was da ist, das ist Material, mit dem wir machen können, was wir wollen.

Und nun lehrt uns die Erfahrung, die wir mit der Welt und mit allem Seienden machen, dass wir selbst Bestandteil das Ganzen - auch der Natur - sind. Wir erkennen, dass wir uns zugrunde richten, wenn wir die Natur zugrunde richten. Wir erkennen, dass nichts nur Material ist im Leben, weil es eigentlich gar keine Materie gibt. Das ist nur eine Schicht, und wenn man durch die hindurchdringt, löst es sich auf in Relativität. Es ist alles Geist und Energie, und es geht alles auf einen Grund zurück. Und auf diesem Grund hört die redliche Wissenschaft auf, zu reden. Und da sagen wir: Es ist Gott.

Das ist die eine Richtung. Die eine Gruppe von Menschen mit ihren Begabungen, die in der Weihnachtsgeschichte repräsentiert ist durch die Heiligen drei Könige.

Die anderen, das sind die einfältigen Menschen. Die haben das gleiche von der Ganzheit auf anderem Wege genauso erkannt: Es ist Gott, der alles in seiner Hand hält im Leben wie im Sterben. Es ist mehr im Gang, als wir für möglich halten. Und nichts, was heute in der Welt glanzvoll und mächtig erscheint, wird vor Gott bestehen können. Es ist das eine große Ganze, das hinter dem Leben und hinter den Dingen ist. Die Weisen aus dem Morgenland und die Hirten waren die ersten an der Krippe Jesu. Die suchenden Wissenschaftler, die geistlich Armen und die einfältigen Menschen, sie haben beide Gott unmittelbar erfahren, sie waren an der Krippe ganz nahe dran.

Schlimm dran ist im Grunde die dritte Gruppe, die noch einen langen Weg gehen muss, nämlich die Menschen, die in dem Wahn leben, sie wüssten alles, sie seien fertig, sie hätten den Geist erkannt, der alles in der Welt regiert. Sie halten den Geist für zählbar und messbar; für das Wahre.

Vor zwei Wochen habe ich mit einem jungen Mann gesprochen, der aus der Kirche ausgetreten ist, und der mir sagte: Es ist alles Chemie! Das sind die, die einen weiten Weg zur Krippe haben. Aber die diesen Weg auch geführt werden, die in ihrem Konzept behäbig geworden sind und die ihren Besitz verwalten und das zum Inhalt ihres Lebens machen, und mit verschränkten Armen vor der Welt stehen, die sagen: Es gibt keinen Gott!

Jesus redet vom Beten, vom Lieben, vom Vertrauen. Er selbst betet, er liebt und vertraut. Er selbst hat darin von Gott eine Macht, die Menschen heilt, eine Macht, die Menschen anschließt an das Ganze, so ähnlich, wie man ein elektrisches Gerät anschließt, indem man den Stecker in die Steckdose tut. Wo Menschen eins werden mit Gott, wenn sie an Gott angeschlossen sind.

Paul Gerhardt hat dieses Ganze, zu dem wir bestimmt sind, in Worte gefasst, indem er dichtete: Ich bin dein, weil du dein Leben und dein Blut mir zu gut in den Tod gegeben. Ich bin dein, du bist mein, weil ich dich fasse und dich nicht, o mein Licht, aus dem Herzen lasse. Ich bin dein, du bist mein, wir sind eins.

Das ist das Heil. Wer Gott liebt, der liebt sich selbst und der liebt seinen Nächsten, und der ist frei; der ist frei von seinem eigenen Ich.

Zu diesem Einssein ist die Seligkeit die Kraft zum Leben. In Jesus Christus, so könnte man es auch sagen, hat Gott unser Bewusstsein erweitert.

Nur wenn wir uns Gott hingeben, werden wir unser Ich los und werden wir selig in Christus.