Predigt vom 31.12.1985 - Pastor Schnabel - 5. Mose 5, 6-7
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN!
Liebe Gemeinde!
Das neue Jahr, das in gut sechs Stunden beginnt, steht unter der Jahreslosung aus dem 5. Buch Mose im 5. Kapitel. Es ist das Erste Gebot, das wir alle als Konfirmanden gelernt haben: "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir."
Gott segne an uns dieses Wort!
Ich habe eine Zeit in Erinnerung, als ich Kind war: Da kehrten viele Väter aus der Gefangenschaft heim.
Ich hörte damals einige dieser Männer - sie waren damals in meinen Augen alt; sie waren etwa so alt wie ich heute - ich hörte diese Männer sagen: man sollte in seiner Jugend nur ja viele Gesangbuchlieder und Gebete auswendig lernen, denn das könne einem keiner nehmen. Sie sprachen von einer "eisernen Reserve".
Wir hatten früher einen Schrebergarten. Unser Garten-Nachbar hatte vor dem Krieg eine gut gehende Apotheke. Er war ein wohlhabender, angesehener, gebildeter und selbstbewusster Mann. Gott war ihm nicht besonders wichtig gewesen, so sagte er selbst. Aber dann kam der Krieg und er geriet in Gefangenschaft. Plötzlich fand er sich in Sibirien in einem Gefangenenlager wieder. Alles, was seinem Leben früher Halt, Rahmen und Sicherheit gegeben hatte, war weg. Ich habe noch genau in Erinnerung, was er erzählte von der Gefangenschaft. Er hauste da mit zwanzig Gefangenen in einem Erdloch. Sie aßen den Pferden, mit denen sie arbeiten mussten, heimlich den rohen Hafer weg, weil sie nichts zu essen hatten. Sie wussten damals nicht, ob sie ihre Heimat je wiedersehen würden. Und in dieser Not, so sagte der Mann, habe er den einen lebendigen Gott erfahren und erkannt. Alle anderen Götter, an denen er vorher sein Leben festgemacht hatte und worauf er sicher vertraute, dass es Bestand haben würde, alle diese kleinen Götter, an die er sein Leben gehängt hatte, und was ihm wichtig war - sein Anwesen, sein Geld, sein Besitz - war weg. Es gehörte mir nichts mehr, sagte er, nur der lebendige Gott, von dem ich als Konfirmand gehört hatte, der blieb bei mir und wurde plötzlich der Grund meines Lebens. Ich begriff plötzlich mein Leben in SEINER Hand - auch in Sibirien. Und so, wie die Sonne über Sibirien scheint, so war es auch die gleiche Sonne in Sachsen. Und so ähnlich war das mit Gott. Gott war nicht an die Heimat gebunden, Gott war bei mir. Man hatte mir alles genommen, aber Gott blieb mir und war da, zu ihm betete ich.
Und er erzählte damals, dass ihm plötzlich der Sinn von biblischen Geschichten, die er als Kind eher gelangweilt gehört hatte, plötzlich aufleuchteten. Die Geschichten z.B. wo es heißt: Im finsteren Tal… ; Geschichten von Daniel in der Löwengrube; vom verlorenen Sohn; von Josef in Ägypten, der in die Sklaverei verkauft war - von den Menschen vergessen, aber Gott war bei ihm.
Der Mann sagte, er hätte damals in Sibirien so gerne eine Bibel oder ein Gesangbuch gehabt, um alles nachzulesen. Aber das gab es ja nicht. Er musste von dem Wenigen leben, was er als Konfirmand mal eben so nebenher und eher notgedrungen mitbekommen hatte. Aber dafür lebte er darin umso intensiver und hoffte auf das, was er von Gott wusste. Und das Wenige erwies sich als tröstlich und gab ihm Kraft und machte ihm Mut.
Da hatte sich der eine Gott, der sagt: "Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir", der hatte sich im Leben dieses Mannes bezeugt.
Ich selbst war nie in Sibirien, Gott sei Dank. Ich gehöre zu einer Generation, die keinen Krieg unmittelbar erlebt hat. Aber ich habe mich einmal in einer ähnlichen Situation befunden:
Vor fünf Jahren, es war ein Tag wie jeder andere mit einem vollen Terminkalender, da hatte ich mich plötzlich innerhalb von Stunden mit hohem Fieber und starken Herzschmerzen auf einer Intensivstation im Krankenhaus wiedergefunden. Da lag ich tagelang, und alles, was sonst meinem Leben einen Rahmen gab, war weg. Ich war zu schwach zum Leben. Ich lag einfach da und fieberte und mein Herz arbeitete unter Schmerzen. Keiner wusste, was es war. Deswegen konnte man mir auch keine Medizin geben. Hinterher stellte sich heraus, dass es die Röteln waren.
Aber in dieser Grenzsituation, wo ich vielleicht auch hätte sterben können, habe ich das gleiche erlebt, wie dieser Mann in Sibirien. Es war nämlich alles weg, was mir sonst im Leben wichtig war. Nur das eine erwies sich als zuverlässig, und das war dieser Gott, der sagt: "Ich bin der Herr, dein Gott, …" hänge dich nicht an irgend etwas anderes, verlass dich auf mich. Es trägt alles nicht. Mir sollst du vertrauen, in meiner Hand ist dein Leben.
Alle anderen Wichtigkeiten verlassen dich in solchen Augenblicken, wenn du da liegst und wartest. Da ist das Beten zu Gott eine Kraft. Da leuchten plötzlich Gesangbuchverse und Psalmen auf, die sprichst du vor dich hin. Und du erlebst wirklich, dass Gott das Eine und Ewige ist, das dir bleibt - auch an der Grenze zum Tod.
In meiner ersten Gemeinde in Breloh lebten viele Flüchtlinge; Munsterlager nannte man das. Da waren Baracken, wo erst die Soldaten ausgebildet wurden. Dann war es ein Kriegsgefangenenlager der Engländer, und dann zogen die Flüchtlinge dort ein. Viele Flüchtlinge aus dem Osten hatte es in dieses Barackenlager verschlagen. Sie waren nichts, sie hatten nichts, und der Status, den sie zuhause hatten, war weg; aller Besitz war weg.
Als erstes aber richteten sie in dem alten Barackengebäude des Offizierskasinos eine kleine Kirche ein, um Gottes Wort zu hören. Die kleinen Götter, die sonst im Leben so wichtig sind, die Menschen, an denen sie hingen, der Besitz, das Ansehen, die irdische Heimat, alles hatten sie verlassen. Aber dabei hatten sie erfahren: "Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht."
Ich habe dann von diesen Flüchtlingen Jahre später die zweite Generation kennengelernt. Die Kinder der ersten Generation hatten sich inzwischen Häuser gebaut, die fingen dann an, aus der Kirche auszutreten. Einen hatte ich mal besucht. Ich habe das Gespräch noch ganz genau in Erinnerung. Er stand mit verschränkten Armen vor seinem neugebauten Haus und sagte: Ach wissen Sie, das mit dem Gott, das ist doch alles Gerede - was zählt, ist das hier. Und dann sagte er, - ich habe diesen unaussprechlich dummen Spruch noch in Erinnerung - mit dem Glauben, das sei beliebig, aber "’ne Mark ist ’ne Mark". Und er erzählte, dass er gute Arbeit hätte und einen festen Rentenanspruch. Was er alles erzählte, das gipfelte in dem Größenwahn seiner Sicherheit, indem er mir sagte, er hätte ein Notstromaggregat im Keller, und da sei er selbst gegen Stromausfall abgesichert.
Ich finde es gar nicht schlecht, wenn man ein Notstromaggregat im Keller hat. Nur wenn man sich auf diese Sicherheit gründet, dann wird es komisch.
Es ist bezeichnend, dass viele Menschen aus ihrem Leben bezeugen können: Gott ist der, der mich hält und trägt, aber sie können es eben nur erfahren, wenn ihnen alle anderen Sicherheiten abhanden kommen, wenn alle kleinen Götter versagen und man plötzlich merkt, dass es stimmt. Und sie merken, dass sie all die Jahre gedacht haben, dass es ihre Tüchtigkeit sei, die ihr Leben festgehalten hat. Aber plötzlich entdecken sie, das war’s gar nicht.
Oft können Menschen Gott nur so erfahren, dass ihnen alles andere abhanden kommt. Geschichten wo Menschen von der Kraft Gottes bezeugen, sind meistens auch Geschichten von menschlicher Not und Hilflosigkeit wo sich Gott erweist. Denn so lange wir mit den anderen kleinen selbst gemachten Dingen zurechtkommen, trauen wir dem einen lebendigen Gott nicht ganz. Und darum erfahren wir Gott so selten ohne Not.
Not lehrt Beten. Das ist nicht ein Spruch, mit dem man sich die Not wünscht, sondern es ist ein Ausspruch, in dem das zutiefst wahre Bedauern zum Ausdruck kommt. Offensichtlich behält dieser Spruch seine Gültigkeit.
Wenn man daraufhin mal die Geschichten des Alten- und Neuen Testamentes liest: es sind alles Geschichten von Gotteserfahrungen; wo Menschen Erfahrungen mit Gott machen. Gerade im Alten Testament sind Geschichten, wo Menschen auf der Flucht sind, wo Menschen bedroht sind, wo Menschen keine selbstgemachte Sicherheit mehr haben. Zum Beispiel: Abraham unterwegs in’s Ungewisse; Jakob auf der Flucht; Israel in der Sklaverei in Ägypten. Israel später; aus der Heimat vertrieben sitzen sie da an den Ufern des Flusses in Babylon. In der Katastrophe, in der Fremde, in der Flucht, in der Hilflosigkeit, erfahren sie: Gott kann überall Heil schaffen, Gott ist auch im fremden Land gegenwärtig; Gott gibt Kraft und Stärke da, wo du selbst nicht mehr weiter weißt.
"Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir." Dieses Gebot ist uns nicht gegeben, weil der eine lebendige Gott Rivalität nicht ertragen könnte, sondern dieses Gebot ist uns gegeben, weil wir nur dann ein seliges Leben führen können, wenn wir uns ganz auf Gott verlassen. Das Gebot sagt: Hänge dein Herz nur an Gott, denn alles andere kann dir keinen Bestand geben.
Wenn du nicht mehr laufen kannst und einen Krückstock brauchst, und du gehst in einen Laden wo es Krückstöcke gibt, dann wirst du diese Stöcke ausprobieren und den Stock nehmen, der dir am sichersten erscheint.
So ähnlich geht das mit dem Gebot. Woran hängst du dein Herz? Worauf verlässt du dich?
Gib acht, worauf du dich verlässt. Wenn es eine wackelige Sache ist, dann stehst und fällst du mit dem, was du glaubst.
Wir sorgen uns so viel um unsere Kinder, das ist richtig so. Aber leicht vergessen wir, dass es genauso wichtig ist wie eine gute Ausbildung und ein ordentliches Benehmen, dass wir den Kindern dieses Gebot einschärfen: ER ist der Herr, unser Gott, wir sollen keine anderen Götter haben neben ihm; und die übrigen Gebote, die darauf folgen. Unsere Kinder sind nicht anders als wir. Ich habe dieses Erste Gebot als Konfirmand notgedrungen gelernt. Vermutlich habe ich auch gemault dabei. Sicher habe ich es nicht verstanden. Aber man muss dieses Gebot kennen, denn die Worte werden sich später plötzlich mit Inhalt füllen, wenn zu den Worten auch die entsprechenden Erfahrungen kommen. Verlass dich auf nichts anderes, als auf Gott, sagt die Bibel immer wieder.
Alle Güter und Gaben, den Beruf, alles das sollst du nutzen, das sollst du gebrauchen, da sollst du tüchtig sein und auch Freude daran haben, aber du sollst dich nicht daran hängen. Du sollst damit umgehen etwa so, wie ein Reisender, der ein Gasthaus benutzt; so, wie ein Maurer, der mit der Kelle umgeht. Du sollst es benutzen und wieder beiseite legen, aber du sollst nicht dein Herz daran hängen.
So sollst du auf Erden umgehen mit allem, was du hast und was du bist. Du sollst es genießen, dich auch daran freuen, aber nicht dein Herz daran hängen, denn es kann keine Sicherheit geben. Neben dem einen lebendigen Gott sollst du keine anderen Götter haben. Man könnte auch sagen: Alles, was uns unruhig macht und von hoher Wichtigkeit ist, was wir neben Gott stellen, das frisst unser Leben auf und macht uns Angst, weil es uns erpressen kann. Dabei haben diese kleinen Götter immer nur so viel Macht, wie wir ihnen geben. Aber das vergessen wir leicht.
Auf den Gott, von dem im Ersten Gebot die Rede ist, und was die Jahreslosung für das neue Jahr sein soll, hat sich Christus ganz und gar verlassen. Er hat nichts anderes gelten lassen neben Gott. Von da her hatte Christus seine Kraft, zu heilen und Wunder zu tun, unerschrocken und liebevoll, aber ohne Angst, auf Menschen zuzugehen und ihnen die Wahrheit zu sagen.
Aus diesem Glauben, aus diesem Vertrauen auf Gott kam auch die Kraft, die Christus auferstehen ließ. Und in diese Kraft hat er uns hineingenommen.
Es heißt dann im 5. Buch Mose weiter, dass Gott an denen Barmherzigkeit erweisen will, die seine Gebote halten. Die nichts anderes in ihrem Leben als gleich wichtig neben Gott gelten lassen, denen will er wohltun.
Wenn du das Erste Gebot über deinem Leben gelten lässt, dann gewinnst du Freiheit, dann kannst du mit allen Gaben deines Lebens umgehen und sie benutzen. Aber die Dinge haben keine Macht über dich, wenn du weißt, dass dir Gott bleibt, auch, wenn dir alles genommen wird, was dir im Leben wichtig ist. Und von IHM kann dich nichts trennen, weder im Leben noch im Sterben.
Nun muss ich noch etwas hinzufügen: Ich würde gerne hier an der Kanzel stehen und sagen: Leute, für 1986 ist alles klar - Erstes Gebot halten, dann wird alles gut. Das ist zwar richtig, aber wir schaffen das ja gar nicht. Wir haben so viele andere Wichtigkeiten, und oft wissen wir gar nicht, was es mit diesem Gott auf sich hat. Und die Hektik des Tages bringt uns so viel Aufregung, Unruhe und Sorge, dass wir oft gar nicht richtig zum Beten kommen. Und auch, wenn ein Mensch das einmal erfahren hat, dass Gott gegenwärtig und mit ihm ist in der Not, dass es wichtig und richtig ist, keine Götter zu haben neben diesem einen Gott, kommen doch wieder andere Wichtigkeiten auf sein Leben zu. Die bekommen Oberwasser und fangen wieder an, sein Leben zu beherrschen. Und dazu brauchen wir die Gemeinde, dazu brauchen wir die Kirche, wo wir immer wieder Gottes Wort hören, damit wir das immer wieder durchschauen, damit wir den kleinen Göttern, die sich neben Gott schieben, wieder eins drauf geben können. Damit wir nicht aufgefressen werden von unseren Sorgen, damit wir wieder durchatmen können und Abstand finden.
Wir haben das sicher alle schon erlebt, dass, wenn wir diesen Abstand hatten, uns wieder klar wurde: Gott ist es, der unsere Zukunft bereit hält. In SEINEN Händen steht unser Leben. Und wenn wir das mal wieder erfahren haben, dann machen wir uns mit viel größerem Elan und viel mehr Gelassenheit wieder an die Arbeit und an’s Leben.
Wir brauchen die Vergebung und die Liebe Christi in Gottes Wort, damit wir immer wieder zurückgeführt werden zu Gott, zu unserem Grund und unserem Ziel, was uns bleibt im Leben und im Sterben und darüber hinaus. AMEN!
Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu - AMEN!