Predigt vom 13.07.1986 - Röm. 6, 3-8
Liebe Gemeinde! Die Epistel, die wir gehört haben, ist zugleich der Predigttext: "Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Jesus Christus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft. So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit - wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters - auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind, in seinen Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein. Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden".
Gott segne an uns dieses Wort!
Liebe Gemeinde, zu diesem Text kommt mir immer das Gänsegleichnis in den Sinn.
Wer da hinten zwischen der Panzerstraße und der Schützenstraße die Gärten hinter der Holztischlerei betrachtet, der kann einen großen Drahtpferch sehen, und da drin sind große, kräftige Gänse eingesperrt, die aber nicht fliegen können.
Ich stelle mir nun vor, diese Gänse könnten reden. Diese Gänse, die ja eigentlich zum Fliegen bestimmt sind, hätten genauso ihre sonntäglichen Gottesdienste wie wir. Und ich stelle mir weiter vor, an jedem Sonntag kommen die Gänse zusammen. Vorn steht dann ein alter, schwarzer Ganter, der hält die Predigt. Und der tut das Gleiche, was ich eigentlich auch tue, er predigt auf verschiedene Weise immer das Gleiche. Er predigt davon, dass Gott sie, die Gänse, geschaffen hat, und dass sie ein neues, gutes Leben führen sollen. Ich stelle mir vor, der alte Ganter predigt: "Gott hat uns Flügel gegeben, damit wir fliegen können aus der Sklaverei in die Freiheit zu den grünen Wiesen, in ein neues Land, das unsere wahre Heimat ist". So predigt der Ganter da vorn, und alle Gänse und Ganter nicken zustimmend mit dem Kopf. Sie sagen: Ja, wir sollen aufbrechen und fliegen. "Wir sind Wanderer auf dieser Erde, unterwegs zu Gott". Das sagt der Ganter zum Schluss. Und dann nicken wieder alle Gänse und watscheln nach Hause.
Und am nächsten Sonntag wiederholt sich das, und immer wieder hören sie die Predigt von der hohen Bestimmung zum Fliegen. Aber es ändert sich nichts. Und dabei gedeihen die Gänse prächtig, sie werden fett und lecker, und später im Jahr, am Martinstag, werden sie aufgegessen.
Sonntags wird die Predigt von jedem gern gehört; Gott hat uns Flügel gegeben, Gott hat uns zu einem neuen Leben bestimmt. Aber montags ist unter den Gänsen und Gantern alles vergessen, denn das Futter ist gut und der Stall ist warm. Die Flügel zum Fliegen tragen alle mit sich herum, aber kaum einer gebraucht sie.
Nun stellen wir uns weiter vor, dass das nicht bei allen Gänsen so ist. Es sind da zwei, drei oder auch acht, die haben die Predigt vom Fliegen ganz ernst genommen. Und die versuchen nun die Flügel zu benützen, die Gott ihnen gegeben hat, und sie nehmen immer wieder Anlauf, und ein Stück weit sind sie auch schon geflogen, aber im hohen Maschendraht sind sie immer wieder hängen geblieben. Sie verletzen sich. Sie fallen auf den Schnabel. Sie versuchen es aber immer wieder. Sie werden nicht fett dabei. Und das halten nun die anderen Gänse für Schwäche. Die andere Gänse sagen nämlich: "Da, schaut mal die mageren Gänse an, da sieht man, wohin das führt. Weil sie dauernd das Fliegen üben, deshalb sind sie so blass und so mager und kaputt. Sie sind von Gottes Gnade nicht so gesegnet wie wir. Wir dagegen, wir gedeihen und werden fett."
Und am nächsten Sonntag gehen sie wieder zum Gottesdienst und hören die Predigt, dass Gott ihnen die Flügel zum Fliegen gegeben hat, und ihnen eine neue Weite der Freiheit verheißen hat. Sonntag für Sonntag geht das So. Aber es ändert sich nur bei den wenigen was, die das Fliegen auch tatsächlich versuchen.
Das-ist ein Gleichnis für uns. Für uns selbst, auch die wir sonntags im Gottesdienst zusammenkommen. Wir haben ja alle die Sehnsucht nach einem neuen Leben im Herzen. Und wir hören auch alle gern, dass Gott uns durch unseren Herrn Jesus Christus zu einem neuen Leben bestimmt hat.
Wir finden es auch großartig, wenn wir hören, wie frei Jesus mit dieser Welt umgeht und mit anderen Menschen. Wie stark und liebevoll, wie bestimmt und zugleich wie barmherzig. Wie diesem Christus nichts Angst macht, wie er ganz eins mit Gott ist, das finden wir gut. Die Einen hören es gern am Sonntag, aber es hat keine Folgen für sie im Rest der Woche, sie bleiben in ihrem alten Leben, in der Gefangenschaft, die mit dem Tod endet.
Und die Anderen, die nehmen das ernst, was Gott uns versprochen hat durch Jesus Christus. Sie sind wie die vielen Heiligen, die bekannten, die auf Altarbildern dargestellt sind, und die Heiligen, die es auch hier in unserer Gemeinde gibt, die nicht so berühmt sind. Die benützen die Flügel des Glaubens, die ihnen Gott gegeben hat. Sie taumeln. Sie fallen auch, sie sind struppig und unruhig, sie schaffen es nicht gleich. Sie bleiben manchmal im Maschendraht des Gesetzes hängen.
Sie werden ausgelacht. Sie werden auch als abschreckendes Beispiel verwendet, aber sie halten fest an Gottes Versprechen und benutzen immer wieder die Flügel ihres Glaubens. Sie halten fest an dem, was Gott in Christus uns versprochen hat. Ich bin sicher, dass sie ankommen werden, dass ihnen die Zukunft gehört, und das Himmelreich, und das ewige Leben. Und dass ihnen nicht angerechnet wird, dass sie immer wieder hingefallen sind, sondern, dass sie es versucht haben, dass sie immer wieder die Flügel des Glaubens bewegt haben, dass sie sich nicht abgefunden haben mit dem Gefängnis. Sie haben mit dem alten Leben gebrochen. Sie finden sich nicht ab, und sie sagen es immer wieder: Wir gehören nicht in den Stall der Gefangenschaft, sondern wir gehören in die Freiheit zu Gott.
Wenn ich uns hier betrachte, dann wird sicherlich keiner von uns Sortieren dürfen, wer von uns auf welche Seite gehört, wer welcher Art von Gänsen gleicht.
Ich selbst gehöre mal zu diesen und mal zu jenen. Und ich habe auch so eine fatale Neigung dazu, bei der ich mich ertappe, dass ich wohl Gottes Wort höre, aber dieses Wort Gottes immer als eine Art Zusatzverpflegung auf meinen selbstgemachten Lebensweg ein hamstern will. Und mein falsches Gebet, oder mein anfängliches Gebet, bei dem es nicht stehenbleiben darf, das geht dann etwa so: "Lieber Gott, gib mir ein bisschen mehr Kraft dazu, dass ich auf meinem selbstgemachten Weg weitergehen kann".
Ein bisschen Frömmigkeit, ein bisschen Religion, unterwegs auf meinem Weg, ist ganz gut, das wünsche ich mir. Und so, wie ich in schwachen Augenblicken da so bete, so haben vermutlich auch die Christen in Rom gebetet, und darum schreibt Paulus diesen Brief und sagt:
"Nein, Leute, so geht das nicht, das hat Gott nicht gemeint. Wisst ihr nicht, dass ihr auf Jesus Christus getauft seid? Dass euer Heil untrennbar mit Christus verwachsen ist? Habt ihr nicht gesehen, dass Christus nicht der eigenen Nase nachgegangen ist, nicht auf selbstgemachtem Weg, sondern dass er euch hat beten gelehrt: "Dein Reich kommen, dein Wille geschehe? Wisst ihr nicht, dass er Gott ganz gehorsam war, und dass er daher die Kraft hatte, sich nicht mit dem Gefängnis dieser Welt abzufinden?"
Neues Leben gibt es nur dann, wenn ihr unterwegs seid auf dem Weg Christi. Solange ihr der Sünde dient, ist neues Leben nicht möglich, da könnt ihr euch noch so sehr abmühen, noch so sehr anstrengen: Wer der Sünde dient, wird am Ende von der Sünde aufgefressen.
Bei dem Wort Sünde schwirren merkwürdige Vorurteile unter uns herum. Sünde ist eben nicht irgend eine einzelne Sache, die wir tun. Das Wort Sünde ist so oft missbraucht worden, damit ist z.B. fälschlich die Erotik behaftet worden. Aber das meint die Bibel gar nicht. Sünde ist eine urmenschliche Grundhaltung. Es ist die Grundhaltung, die zutage tritt, wenn Menschen behaupten: Ich schaffe mir den Sinn meines Lebens allein und selbst. Sünde ist, wenn Menschen behaupten, sie wüssten selbst was gut und böse ist.
Das ist Sünde!
Und das ist die Grundhaltung, aus der dann Taten kommen, die zerstörend wirken.
Sünde ist, wenn ich sage: "Ich weiß allein, wie mein Leben richtig geht.
Heil dagegen ist, wenn wir von Herzen beten: "Jesus, dir leb ich, Jesus, dir sterb ich, dein bin ich im Leben wie im Tod.”
Die Sünde sieht immer so selbstherrlich aus, und so stark. Und daneben sieht es immer so Schwach aus, wenn jemand in die Knie geht und betet, und sich führen lässt.
Aber am Ende ist es umgekehrt; Sünde ist der selbstherrliche Lebensstil, in dem Gott eigentlich gar nicht vorkommt. Und wenn, dann nur; lieber Gott, liebe Schiksalsmacht, gib mir noch ein bisschen Extrakraft, dass ich hier meine eigenen Ziele verfolgen kann.
Wer so betet, kann sich nicht auf die Verheißung der Erhörung Jesu Christi beziehen.
Paulus erinnert eindringlich: Ihr seid auf Christus getauft, dieser Lebensstil der Sünde des Selbstseinwollens liegt hinter euch, und für diesen zerstörerischen Lebensstil seid ihr gestorben. Gott gab euch Flügel durch den Geist Christi, durch den Geist des Glaubens. Er gab euch Flügel, aus der Gefangenschaft auszubrechen. Wisst ihr das denn nicht? Habt ihr das nicht vergessen?
Und wenn unsere Gottesdienste einen Sinn haben, dann vor allem den, dass wir das immer wieder vergegenwärtigen und in Erinnerung rufen lassen durch Wort und Sakrament.
Neben diese Warnung stellt Paulus groß und strahlend das neue Leben, in dem wir neue Menschen sind, verwachsen mit Jesus Christus und von der Sünde frei.
Und von der Sünde frei, heißt hier wieder nicht, dass uns nun gar keine Fehler mehr unterlaufen, sondern, von der Sünde frei, heißt eigentlich, von unserem "Selbstseinwollen" frei. Frei von unserem Ich. Zusammengewachsen mit Christus, mit seinem Tod und mit seiner Auferstehung, So schreibt Paulus, das bedeutet, nicht mehr auf selbstgemachten Wegen gehen und nicht mehr selbstgemachte Ziele verfolgen. Nicht mehr sich selbst gehören, sondern Gott gehören.
Es scheint immer so schwer, sich selbst loszulassen. Es ist, wie wenn man am Ufer steht, und man ist noch nie mit einem Boot gefahren, und man traut diesem Kahn nicht so recht. Und andere, die mit diesem Kahn gefahren sind, die sagen: "Spring auf diesen Kahn, der Kahn trägt dich und bringt dich übers Wasser". Und du stehst am Rand und musst denen, die es sagen, vertrauen und den Sprung einmal wagen. Dann wirst du erfahren, dass dieser Kahn trägt. Anders nicht.
Auf Gottes Wort hin aufbrechen ist so ähnlich. Es ist eigentlich leichter, als in den Kahn steigen.
Auf Gottes Wort hin aufbrechen ist leicht für den, der dem Wort vertraut, das von Christus auf uns gekommen ist. Ist leicht für den, der immer wieder auf die Geschichten hört, die von, mit und über Jesus erzählt werden. Denn es sind alles Geschichten vom Aufbruch, vom Fliegen, von einem neuen Leben, zu dem wir bestimmt sind.
Der Geist unseres Herrn Jesus Christus ist gültig und bleibt in Ewigkeit.
Nur auf unser eigenes Sinnen und Trachten ist wenig Verlass. Aber auf sein Wort hin gelingt uns das, was uns unmöglich erscheint.
Dahin reichen auch die Wundergeschichten, von der Auferstehung, dass das Grab leer ist. Von dem Wandern über den Abgrund des Wassers. Von dem Wandern durch das finstere Tal.
Ihr Lieben, wir werden mehr geliebt, als wir denken. Und wir sind auch geborgener, als wir das ahnen. Aber diese Liebe und diese Geborgenheit erfahren wir erst, wenn wir ganz auf Gott vertrauen, und das tun wir leider nur dann, wenn nach unserem Ermessen und nach unseren Kräften nichts mehr geht.
Wir wollen ganz und gar auf Gottes Geist vertrauen und nicht müde werden.
Und wenn ihr in den nächsten Wochen mal wieder diese Haus-gänse seht, dann denkt daran, dass wir zum Fliegen bestimmt sind, und das Christus unserer Seele Flügel gegeben hat.
AMEN!