Predigt 557

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Predigt vom 24.08.1986 - 1. Joh. 4, 7-12

Der Predigttext steht in der Epistel, die wir heute gehört haben, im 1. Brief des Johannes im vierten Kapitel. Da schreibt Paulus: "Ihr Lieben, lasst einander uns liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat zur Versöhnung für unsere Sünden. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch einander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen".

Gott segne an uns dieses Wort!

Liebe Gemeinde! Über Liebe kann man stundenlang reden. Liebe kann in einem Augenblick deutlich werden, in einer Tat, in einem Wort.

Liebe kann man nicht begründen, weil Liebe der Grund ist.

Liebe ist, wenn Menschen grundlos einander gut sind. Liebe dürfen wir nicht verwechseln mit einem sentimentalen Gefühl, oder mit Sympathie. Liebe geht tiefer als Sympathie.

Ich kann mich an meinen Patenonkel Wilhelm erinnern. Der war ein altes Raubein. Wenn ich ihn besuchte, dann brummelte er vor sich hin: " Na, du verrückter Kerl, kommst du schon wieder?" Aber ich wusste genau, dass er sich von Herzen freute, und dass er mir gut war, dass er mich liebhatte.

Ich kenne die Geschichte von einer alten Frau, die mir mal erzählte: Als sie ganz jung verheiratet war - ihr Mann war etwas älter - da waren sie manchmal zu Gesellschaften eingeladen. Und dann erzählte sie, da sei ein Mann gewesen, der hätte seine Frau gehätschelt,der hätte ihr Pralinen mitgebracht, ihr Pelze gekauft. Und ihr eigener Mann, der sei so ein bisschen nüchterner gewesen und manchmal auch ein bisschen ironisch, aber er habe sie lieb gehabt. Aber so wie dieser Mann, der diese Frau auf Händen getragen hat, das hätte sie sich immer gewünscht. Sie erzählte weiter: eines Tages sei dieser Mann, der seine Frau gehätschelt und auf Händen getragen hat, plötzlich gestorben. Er hinterließ einen sehr verqueren Nachlass. Er hatte noch zwei Nebenfrauen, von denen seine Ehefrau nichts wusste. Als das herauskam, hat sie sich doch gesagt: Liebe ist nicht unbedingt das Verwöhnen mit Pralinen und Pelzen, sondern Liebe geht tiefer und ist echt; Menschen die lieben, sind einander grundlos gut.

Aber es ist für uns nicht immer so leicht zu unterscheiden und es ist manchmal fatal, dass wir gar nicht erkennen, wer uns eigentlich wirklich von herzen liebt.

Da ist der König Lier, der hat drei Töchter. Die Eine schmiert ihm Honig um’s Maul und er denkt: Das ist die Tochter, die mich am meisten liebt. Die Zweite sagt nicht viel. Die Dritte ist nüchtern. Erst als später in seinem Leben alles verquer geht, da erweist sich die nüchterne Tochter als die, die den Vater am meisten liebt. Er erkennt es leider zu spät. Er hatte nämlich vorher sein Erbe an die Andere verteilt.

An der Liebe scheiden sich die Geister in Menschen, die lieben, die behaupten, man sieht nur mit dem Herzen gut. Und in Menschen, die nicht lieben, die behaupten: Liebe macht blind, Liebe ist eine Form von Wahnsinn.

Genauso scheiden sich die Geister: wer die Realitäten unseres Lebens für normal hält, der muss die Liebe für eine Verrücktheit halten und sich selbst für einen Realisten, der weiß, wie’s Leben wirklich geht.

Wer aber die Liebe für normativ und gültig hält, der behauptet umgekehrt: das Leben, wie es ohne Liebe geht, ist falsch und verrückt und nur die Liebe gilt.

So teilen sich die Menschen in zwei Gruppen. Die Einen, die an die Kraft der Liebe glauben, und die Anderen, die nicht daran glauben, dass die Liebe das Leben und die Realitäten verändern kann. Und wir Menschen wechseln zu Zeiten hin und her. Mal beflügelt uns die Liebe, dann glauben wir, dass sie die Weltwirklichkeit verändern kann. Und dann gibt es Zeiten, wo wir sagen: Es scheint wohl doch nicht so zu sein.

Das Merkwürdige ist, dass ich eigentlich keinen Menschen kenne, der gegen die Liebe ist. Es gibt wohl viele Menschen, die nicht an die Liebe glauben, die nicht glauben, dass die Liebe eine Kraft ist. Aber sie sind wehmütig dabei, wenn sie’s sagen. Sie sagen: "Na ja, schön wär’s, aber die Verhältnisse sind nicht so, die Menschen sind nicht so" Wenn sie so reden, klammern sie sich selbst meistens aus. Oder sie sind wahrhaftig und sagen: "Ich bin eben leider auch nicht so".

Es gibt auch kaum einen Menschen - und das hängt innerlich zusammen - der gegen Jesus ist. Aber viele halten Jesus eben für einen Spinner.

Sie zeigen auf sein Kreuz und sagen: "Da siehst du doch, wo die Liebe hinführt!"

Jesus Christus, der erste Mensch, der ganz und gar davon überzeugt war, dass Gott von uns erst und vor allem die Liebe fordert, der das Gebot bekräftigt hat: "Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst", dieser Jesus lässt sich durch das Böse nicht zur Gegenwehr reizen. Wer Jesus auf die rechte Wange schlägt, dem hält er auch die linke hin. Jesus will, dass Gottes Liebe Raum gewinnt unter uns Menschen. Und diese Liebe lebt er selbst ganz konsequent. Und wenn er nicht zurückschlägt, dann schlägt er nicht etwa deshalb nicht zurück, weil er zu schwach dazu wäre, sondern weil er’s nicht will, weil es gegen die Liebe ist.

Jesus betont: wie Gott die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute, so liebt er auch seine Feinde und seine Freunde. Und seine Liebe in der absoluten, angstfreien Konsequenz ist so stark, dass er Feinde überwindet und aus ihnen Schwestern und Brüder macht.

Wir Christen haben erlebt und bezeugen, dass uns in Christus diese Liebe begegnet. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass wir zugleich erleben, dass die Liebesforderung Jesu nicht mit unserer Lebenswirklichkeit vereinbar ist. Mit der Liebe, die Jesus fordert, kann ein Mensch in der Welt nicht bestehen. Und da spitzt sich das Thema für jeden Einzelnen zu, da muss er sich fragen, wie er es halten will. Entweder ist die Liebesforderung Jesu falsch und die Realitäten sind richtig, oder die Liebe gilt und dann erscheinen die Realitäten als falsch. Du musst dir überlegen, auf welcher Seite du stehen willst: ob du die Realitäten für die Norm halten willst, oder die Liebe für die Norm halten willst.

Viele Menschen stellen sich auf die Seite der noch mehrheitlichen Realität, in der die Menschen leben. Sie zeigen auf die Liebe, und sagen: Die Liebe ist etwas Verrücktes.

Die Christen, die Jesus zu sich gezogen hat, die stehen auf der anderen Seite und ziehen den umgekehrten Schluss daraus und sagen:

Wir haben Gottes Liebe erfahren und wir behaupten, die Realität ist verkehrt und unnormal und hart, und was wir für normal halten, ist Wahnsinn im Lichte der Liebe - die Liebe hat recht und darauf bestehen wir. Und so behaupten wir Christen, dass das, was mehrheitlich für die Realität gehalten wird, gegen Gottes Willen ist und verkehrt und dem Untergang verfallen.

Es ist eine alte Welt - wie die Bibel sagt - dem Untergang verfallen.

Es hängt also alles daran, ob du Jesus recht gibst und die Liebe gelten lässt oder nicht. Gibst du Jesus recht, dann gilt die Liebe und dann kannst du dich mit der Realität nicht abfinden. Und dann muss ich dir sagen, dass das christliche Leben eben nicht leicht ist, es ist; tief und echt und Stark, aber es ist nicht leicht, denn der Christ lebt immer in der Spannung, die sich daraus ergibt, dass die Liebe gilt-und die Wirklichkeit falsch ist.

Dann lebst du in dieser Spannung, die sich in jedem Gebet ausdrückt; "Dein Reich komme, dein Wille geschehe".

So betet ja nur jemand, der noch den Mangel empfindet, der weiß: es ist noch nicht da, aber ich sehne es herbei; der weiß: die Liebe gilt und die Realität ist vorläufig. Wer die Realität als etwas Vorläufiges ansieht, der hat auch einen Sinn für Möglichkeiten und der begreift das Leben als etwas Bewegliches, als etwas, das noch nicht fertig ist.

Jesus ist kein Träumer. Jesus nimmt die Realitäten der Welt so, wie sie sind. Er weiß, sie sind lieblos und damit dem Tod verfallen.

Und weil er uns liebt, will er uns durch Liebe retten.

Und leidend und sterbend am Kreuz erfüllt er selbst das Gebot: "Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst".

Jesus verwirklicht mit seinem Leben die Liebe Gottes und durch seine Auferstehung kommt seine Liebe uns zugute. Und weil er auferstanden ist in unsere Herzen, sind wir überhaupt in dieser Stunde versammelt und tun etwas - nach den Realitäten dieser Welt - etwas sehr Merkwürdiges; wir hören Gottes Wort.

In Christus wird die Liebe wirklich. Und seine Liebe hat in unseren Herzen Funken geschlagen. Und darum behaupten wir: Seine Liebe ist wahr und die Realität - in der die Liebe nichts gilt, die ist falsch!

Und darum haben wir einen anderen Blick für die Wirklichkeit, weil wir das bekennen und als gültig bezeugen.

Aber nun der nächste Schritt: Wir leben als Geliebte Gottes in Spannung. Wir zeigen auf Jesu und bekennen: Er ist Gottes Liebesbotschaft an uns. Und wir bekennen: Die Liebe ist das Eine, was unser Leben heil und gut macht und vollkommen - das bezeugen wir!

Wir bekennen aber zugleich andererseits - und das verstehen Außenstehende manchmal nicht: Wir sind Sünder! Wir brauchen die Beichte. Wir bekennen, dass wir seiner Liebesforderung nicht genügen.

Nun haben wir Menschen ja die Neigung, dass wir mogeln. Wenn wir eine Forderung nicht erfüllen können, dann schwächen wir die Forderung ab und machen uns ein bisschen besser. Und dann wursteln wir das so zusammen, dass es so gerade hinkommt.

Aber das ist uns verwehrt. Wir Christen leben in dieser Spannung, wir wissen genau, wir kommen der Liebesforderung nicht nach, aber wir bezeugen trotzdem: Sie gilt!

Außenstehende reiben uns dieses Bekenntnis nun gern unter die Nase. Sie sagen nämlich: Ihr könnt das ja selbst nicht, mit der Liebe. Auch wenn uns das manchmal danach klingt, als ob es hämisch gemeint ist, so meine ich doch, dass auch die Außenstehenden, die Heiden, das eher wehmütig meinen. Da schwingt nämlich die Sehnsucht mit: Ach, wenn ihr die Liebe Jesu einlösen könntet in eurem Leben, dann würden wir wohl auch mitmachen. Wir finden die Liebe ja auch gut, aber wir glauben nicht, dass die Liebe Kraft hat, und ihr bringt ja die Kraft auch nicht auf.

Trotzdem halten wir fest daran; die Liebe ist die Kraft, durch die allein das Leben heil werden kann.

Ob wir zu schwach dazu sind oder nicht, die Liebe gilt!

Dass wir trotz unserer Schwachheit daran festhalten, das hat seinen Grund in Jesus Christus, den wir als unseren Heiland bezeugen.

Das ist nun so eine Formel unter den Christen. Die Kraft, die uns die Spannung aushalten lässt, dass wir auf der einen Seite Geliebte sind, dass wir der Liebe glauben, und auf der anderen Seite erkennen, dass wir zu schwach und zu kümmerlich sind, bringen wir alleine nicht auf.

Und nun kommt der Kern des Predigttextes heute. Da heißt es nämlich - und das ist eine ganz wichtige Stelle im Evangelium:

Er hat uns zuerst geliebt!

Das ist die frohe Botschaft, die in diesem Satz steckt: "Darin-besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben; das heißt: nicht, dass wir die Kraft aus uns selbst hätten, sondern dass Er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat zur Versöhnung für unsere Sünden".

Ihr Lieben, wenn uns Gott so geliebt hat, sollen wir auch einander lieben.

Das heißt: Die Kraft zur Liebe kommt von Gott, nicht aus uns selbst. Wir werden geliebt sogar in unserer Unfähigkeit. Wir haben Gottes Liebe in Christus erfahren, wir zeigen auf Christus und sagen: Ja, Sünder sind wir und wir entsprechen nicht dem Liebesgebot Jesus, aber wir jagen ihm nach, es gilt, wir bezeugen es.

Aber Er, Er hat sich hingegeben für uns. Er hat noch am Kreuz darauf bestanden, dass wir der Liebe wert sind.

Und so leben wir als Sünder und Gerechte zugleich.

Wir sind Geliebte, die sich wundern, wie Jesus Leute wie uns lieben kann. Wo wir doch oft so hässlich zueinander sind. Wir sind verstrickt in Vorurteile, in Rechthaberei, in Halbherzigkeit. Erbärmlich ist unser Kleinglaube, der immer nur auf das sieht, was wir mit unserer Kraft zustande bringen. Und das nennen wir dann; die Realität, und sehen natürlich dann wirklich keine Möglichkeit mehr, dass die Liebe eine Kraft sein könnte.

Aus dieser Verstrickung, dieser engen Führung des Geistes, dieser Beschränkung des Möglichkeitssinnes rettet uns nur Seine Liebe.

Er hat uns zuerst geliebt!

Ich weiß nicht, warum er uns geliebt hat. Liebe hat keinen Grund. Das sagen wir auch zwischen Menschen: Die hat einen Narren an dem gefressen, das heißt; kein Mensch kann verstehen, warum die den liebt. Aber die Liebe ist der Grund.

So ähnlich ist das, Er hat sich für uns kreuzigen lassen.

Die Liebe gilt. Was die Welt als Realität nimmt, ist falsch. Gottes Liebe schafft eine neue Wirklichkeit.

In Christus erkennen wir, dass wir der Liebe wert sind. Daher kommt das Wort "liebenswert". Wir sind liebenswert.

Und wenn du für Gott liebenswert bist, dann bist du es auch für mich und ich bin es auch.

Das macht unsere Würde und unseren Wert aus. Das ist deine und meine Würde, das ist dein Wert und mein Wert.

Und merkt ihr, jetzt reden wir von etwas, das wir gar nicht untereinander verteilen können. Das wir uns nicht wegnehmen können, das ich euch nicht geben kann, sondern das uns von Ihm geschenkt wird.

Er hat uns zuerst geliebt!

Und da ist etwas, das über uns hinausgeht, wo wir alle nur die Hände aufhalten können. Wo sich auch keiner aufspielen kann und sagen:

Ich gebe euch etwas ab, oder ich halte es zurück, sondern - Er hat uns zuerst geliebt.

Jeder kann mir vorwerfen, dass meine Liebe nicht stark und konsequent genug ist. Ich muss bekennen, dass das stimmt. Aber das macht die Liebe nicht ungültig. Und das wundert manchmal Außenstehende. Mensch, ‚guck doch die Christenheit an, ihr müsstet doch längst eure Koffer packen, das ist doch jämmerlich! Dann wundern sie sich, dass die Christen trotzdem weitermachen.

Und der einzige Grund, mit dem ich die Schuld bekennen kann, ohne zusammenzubrechen ist, dass ich sage:

Er hat uns zuerst geliebt - ich zeige auf Ihn.

Und wenn du mal wieder dran bist, an dir selbst zu verzweifeln, und du dich fragst; Mensch, bin ich denn wirklich et Christ? Ich bin doch viel zu schwach und das ist doch mit dem Glauben alles eine wackelige Sache bei mir. Dann lass es dir gesagt sein:

Er hat dich zuerst geliebt, berufe dich darauf! Auf etwas anderes können wir uns alle nicht berufen.

Und alle Rechthaberei, die es in der Kirche gibt, alle Behauptungen, das Christentum sei besser als dies oder das, und der Streit, ob die Kirche gut oder schlecht ist oder abgewirtschaftet hat, das hat alles in sich selbst keinen Glanz, das sollen wir alles sein lassen.

Wir sind Sünder, mit uns kann man tatsächlich keinen Staat machen. Aber wir sind gerecht weil Er uns liebt.

Und davon lebt unsere Kirche, und wenn sie davon nicht lebt, dann kann sie einpacken.

Er hält uns der Liebe wert, und darum hoffen wir auf Seine Liebe und bezeugen einander diese Liebe.

Lasst uns einander liebhaben, denn Er hat uns zuerst geliebt. AMEN!