Predigt vom 14.06.1987 - Pastor Schnabel - Dorffest - Eph. 1, 3-10
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!
Liebe Gemeinde! Gott, der absolute Geist, handelt in der Geschichte der Welt und in der Geschichte jedes einzelnen Menschenlebens.
Gottes Geist offenbart sich in der Sprache der Menschen. Gottes Geist gibt keine Ruhe, denn wir sollen leben.
Und Leben heißt: unterwegs sein. Dazu sind wir bestimmt, dass wir in der Zeit, die Gott uns gegeben hat, wachsen und reifen und uns bewähren.
Ein Mensch, der jetzt lebt und behauptet, er sein schon fertig, der ist schon fertig im schlimmsten Sinne des Wortes.
Gott nimmt immer wieder neue Anläufe in der Geschichte, und auch in deiner Lebensgeschichte.
Alle Geschichten der Bibel sind Geschichten vom Aufbruch in die Freiheit, in neue Bereiche des Lebens. Und immer sprengt Gottes Geist die kleinen, selbstgemachten Rahmen, die wir Menschen uns zurechtlegen. Und immer haben wir Menschen Angst vor dem Neuen, vor dem, was wir noch nicht kennen.
Die Bibel im Alten Testament erzählt von dem Volk Israel. Ein armseliges Sklavenvolk lebt unter der Zwangsherrschaft in Ägypten. Gott schickt Mose, er soll das Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führen. Wenn man diese Geschichte liest, dann denkt man: Die armen Sklaven müssten doch von Mose begeistert sein, dass er sie in die Freiheit führt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie stöhnen zwar unter den Verhältnissen, aber sie wollen nichts ändern. Und als sie dann doch durch die Wüste in das gelobte Land ziehen, da jammern sie bei der ersten Durststrecke und wollen lieber wieder in die gewohnte Sklaverei, zu den sprichwörtlich gewordenen Fleischtöpfen von Ägypten.
Aber Gott lässt seine Geschöpfe nicht verkommen, auch wenn sie maulen. Sie sollen Menschen werden nach seinem Bilde.
Und so nimmt Gott immer neue Anläufe. Zuletzt wird da ein Kind geboren in einem Stall: Jesus.
Dieser Mann aus Nazaret ist Gottes Botschaft an uns!
In ihm - so könnte man auch in einem philosophischen Begriff sagen - manifestiert sich der absolute Geist. Jesus führt die Menschen in die geistige Freiheit. Er adelt uns mit seiner Wahrheit und seiner Liebe.
Und wieder geschieht es wie damals in Israel; die Menschen wehren sich. Sie sind griesgrämig und resignieren und sagen: soll es doch lieber bleiben wie es ist. Aber Jesus, weil er uns liebt, gibt keine Ruhe. Und er wird dem Weltgetriebe, wie es bis dahin war, immer gefährlicher.
Sie warnen ihn, und sie kreuzigen ihn. Aber Gott erweckt ihn zu neuem Leben.
Und das ist der Grund unserer Hoffnung. Darin erkennen wir nämlich, dass sein Geist sich ausbreitet unter allen, die ihm glauben, dass er auferstanden ist.
Das ist das große Zeichen, das uns Gott gesetzt hat; dass keiner Gottes Geist töten kann. Und dass seine Botschaft in der Welt ist, und dass keiner sie wieder herausnehmen kann. Seine Botschaft brennt unter uns und jeder kann von seinem Geist entzündet werden.
So gibt es bis auf den heutigen Tag Menschen, die wohl auch Sünder sind, die aber zugleich etwas von dem neuen Leben in Christus geschmeckt haben. Und zu denen gehören wir Christen hier in Deutsch Evern. Wir sind nicht fertig. Wir werden rückfällig. Man könnte auch sagen, wir sind noch klein im Geist. Aber wir finden uns damit nicht ab, denn wir wissen und glauben und vertrauen, dass wir wachsen werden, zu Jesus Christus hin, unserem großen Bruder.
In vielem sind wir Christen wie alle Menschen. Aber in einem unterscheiden wir uns, insofern nämlich, dass uns das alte Leben nicht mehr schmecken will. Denn Christus hat uns angerührt Und wir haben durch Christus einen neuen Geschmack von einem besseren Leben bekommen.
Da das jetzt alles etwas abstrakt war, will ich’s noch einmal mit einem Gleichnis sagen. So wie in der Kinderpredigt in der Martinuskapelle, die sonst immer am Anfang steht.
Es gibt da nämlich eine Geschichte, die ich sehr gern habe: die Geschichte von der kleinen Henne.
Stellt euch eine kleine Henne vor. Sie lebte mit 500 anderen kleinen Hennen in einem großen Stall - vielleicht so groß, wie diese Turnhalle - Regal an Regal, und überall sitzen kleine Hennen drin. Die kleinen Käfige sind aus Draht. Die kleine Henne sitzt auch in so einem Käfig. Sie hat nichts zu scharren, aber sie bekommt viel Futter, und sie legt jeden Tag ein Ei. Sie hatte in ihrem Leben noch nie die Sonne gesehen, denn in diesem großen Stall gab es nicht mal Fenster wie hier, sondern da brannte nur elektrisches Licht. Sie war in ihrem Leben noch nie in der frischen Luft gewesen. Sie wusste nicht, wie man auf Erde scharrt. Die kleine Henne wusste auch nicht, dass es einen Sonntag gab.Sie lieferte fast jeden Tag brav ein Ei ab und führte ein elendes Leben; aber sie kannte es nicht anders.
Und draußen am Stall, da hing eine große, verlogene Tafel, da stand drauf: "Hier täglich frische Landeier."
Eines Tages kam ein Mann in den Stall, der hatte einen großen Korb. Und die Frau, die da arbeitete, stand am Fenster und sah ihn von weitem kommen und dachte: Nach diesem großen Korb zu urteilen, nimmt der mir mindestens hundert Eier ab.
Aber der Mann kam rein und zeigte auf einen Käfig und sagte: "Ich möchte diese kleine Henne kaufen!" Und er bezahlte, nahm sie, setzte sie in seinen Korb und fuhr mit ihr nach Hause. Und nun hatte diese kleine Henne furchtbare Angst. Sie traute sich gar nicht, das Köpfchen über den Korbrand zu strecken, weil alles so neu war. Sie wäre am liebsten tot umgefallen, denn ihr fehlte das gewohnte Drahtgitter und das elektrische Licht.
Als der Mann nach Hause kam, nahm er den Korb mit der kleinen Henne und trug ihn in einen großen, schönen Garten. Und in der Mitte war viel Rasen, da konnte die kleine Henne spazieren gehen. Die Blumen blühten, die Sonne schien. Und trotzdem hätte die kleine Henne am liebsten geheult, denn die Sonne stach ihr in die Augen; sie war wie geblendet. Und das Gras kitzelte sie an den Füßen, und am Bauch erst recht, weil sie da keine Federn mehr hatte, denn in dem Käfig war es immer langweilig, darum hatte sie sich die Federn ausgerissen.
Sie suchte ihren Käfig, aber sie fand nur ein frisches, umgegrabenes Beet. Sie fand einen Käfer und einen Regenwurm. Lauter Dinge, die sie noch nie erlebt hatte. Und zum Schlafen bekam die Henne einen schönen Stall. Aber auch in diesem schönen Stall schlief sie zuerst ganz schlecht. Sie wusste nämlich noch nicht, wie schön es sich alleine träumen ließ.
In der zweiten Nacht schlief sie schon besser. Und in der dritten Nacht, da war es ihr so, als ob sie ewig da bleiben könnte. Und am vierten Tag fand sie schon selber ihre eigene Futterschüssel.
Aber am fünften, da kam ein großes Gewitter. Und das hatte sie auch noch nie erlebt. Beim ersten Donnerschlag floh sie unter die Fliederbüsche. Und dann kam ein Blitz, und dann flatterte sie vor Angst in den Wassertrog. Und zum Glück holte der Mann sie in die Küche und trocknete sie ab. Und die kleine Henne steckte ihr Köpfchen unter seinen Arm, bis es draußen wieder still geworden war.
Und danach lebte sie sich gut ein. Sie hatte keine Angst mehr in dem schönen Garten, sie war frei. Sie kannte sich jetzt aus mit den Blumen und Tieren. Und dieser Mann, bei dem sie lebte, der schimpfte nicht, er sagte: "Für mich brauchst du nicht jeden Tag ein Ei zu legen!" Und er streichelte sie und sagte ihr manchmal ganz ruhig: "Du bist raus aus dem Käfig, du sollst ein neues, gutes Leben haben!" Und das gefiel der kleinen Henne sehr.
Aber es gab noch mehr Überraschungen. Eines Tages kam nämlich der gute Mann wieder mit dem Korb in den Garten, und in dem Korb war wieder etwas drin: es war ein kleiner Hahn. Und auch dieser Hahn guckte nur so ganz knapp über den Rand des Korbes und hatte furchtbare Angst, man sah es ihm an. Und der Mann hob ihn heraus und setzte ihn auf das Gras. Er stand da, wie aus Holz und zog den Kopf ein. Er schaute ängstlich um sich.
Und da kam die kleine Henne. "Na du", gackerte sie leise, "kommst du auch aus dem Drahtkäfig?" Und dann trippelte sie ein Stück vor ihm her, und als er vorsichtig hinterherlief, zeigte sie ihm den ganzen Garten. Ein frisches, umgegrabenes Beet, die Büsche, die Sträucher und die Gartenlaube. Und sie sagte: "Es ist schön hier, nicht?" Und es dauerte nicht lange, da gefiel dem kleinen Hahn das neue Leben.
Merkt ihr, wir kommen in dieser Geschichte auch vor. Jesus Christus ist wie der gute Mann, der uns freigekauft hat zu einem neuen Leben.
Wir verstehen dieses Bild, wir kennen die Drahtkäfige der vermeintlichen Sachzwänge. Wir hocken doch mit vielen anderen hinter den Gitterstäben unserer Angst. Wir sind eingesperrt in alten Geschichten von Bosheit und Versagen, von nicht bestandenen Prüfungen in unserem Leben. Geschichten, die sich kein Mensch selber vergeben kann.
Das Leben im Käfig trennt uns. Es macht uns so krank, dass man manchmal mit dem Thermometer messen kann, was mit einer kranken Seele begann.
Jesus Christus ist der gute Mann, der uns herauskauft und befreit aus unseren Käfigen.
Und wenn wir mühsam herauskommen, dann ist noch gar nicht alles getan, denn es geht uns wie der kleinen Henne: diese Freiheit ist ungewohnt und neu.
Uns Christen kommt dann manchmal auch diese böse Sehnsucht nach dem gewohnten, alten Käfig mit seinen Zwängen und seiner bitteren Einsamkeit. Dann sind wir wie die kleine Henne, die in Panik gerät bei dem ersten Gewitter und zurückfliehen will in den alten Käfig.
Und darum brauchen wir Gottesdienste und Gemeinschaft und Lieder und Gebete. Dazu brauchen wir die Versammlung der Freigelassenen, der Christen, die einander helfen und raten und trösten.
Denn Christus ist wirklich bei uns, da wo wir uns in seinem Namen versammeln.
Ein Letztes will ich noch erzählen, was mich an dieser Geschichte von der kleinen Henne so rührt.
Die kleine Henne fragt den gerade freigelassenen Hahn, der da ganz unsicher in der neuen Freiheit steht: "Kommst du auch aus dem Drahtkäfig?"
Das ist ein Wort, in dem Liebe klingt.
Die Henne hätte ja auch sagen können: "Also, du armes, kleines Hähnchen, jetzt zeige ich dir mal meinen großen, schönen Garten. Schau mal her, wie frei ich bin, so frei bist du noch nicht!"
Das wäre hochmütig. Das würde uns abstoßen. Aber so redet die kleine Henne nicht. Sie ist kein Pharisäer. Sie kennt nämlich selbst den Drahtkäfig von innen. Sie hat die Hilflosigkeit von Anfang an erlebt. Und sie hat nie vergessen, wem sie die geschenkte Freiheit verdankt.
"Kommst du auch aus dem Drahtkäfig?"
In dieser Geschichte steckt liebevolle Solidarität. Wer mich so fragt, zu dem habe ich Vertrauen, der ist meine Schwester und mein Bruder in Christus.
In diesem Geist entsteht Gemeinde. Die Gemeinschaft der Freigelassenen, der Kinder Gottes.
Da ich nun im fünften Jahr in Deutsch Evern lebe, muss ich sagen: Es ist nicht so, dass Deutsch Evern nur ein harter Boden oder ein steiniges Pflaster sei, wie ich es oft gehört habe.
Wir hocken zwar hier natürlich noch in unseren selbstgemachten Käfigen hier und da. Und da wir alle empfindsame Herzen haben, haben wir sie manchmal aus Angst und Selbstschutz mit harten Stahlplatten gepanzert.
Aber zugleich haben wir in Christus auch schon die klare Melodie eines neuen Lebens vernommen.
Und je früher wir diesem Ton folgen und nachgehen, desto eher werden wir aus unseren Käfigen befreit füreinander - AMEN!