Predigt 605

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Predigt vom 31.01.1988 - Pastor Schnabel - Jeremia 9, 22-23

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!

Liebe Gemeinde!

Von den Arbeitern im Weinberg haben wir im Evangelium gehört (Matt. 20, 1-16). Jesus sagt: Gott ist wie der Herr des Weinberges. Er belohnt wie er will, nach seiner Gerechtigkeit und nach seiner Barmherzigkeit, die nicht unbedingt unsere Gerechtigkeit und unsere Barmherzigkeit sein muss.

Und im Predigttext hören wir die Worte des Propheten Jeremia, der Weisheit, Stärke und Reichtum nicht verachtet, der aber sehr wohl die Grenzen dessen kennt. Er sagt: Klug ist, wer Gott allein vertraut, der erkennt, dass Gottes Barmherzigkeit und Gottes Gerechtigkeit nicht unseren Vorstellungen folgen muss. Hört nun den Text, wie er geschrieben steht im Buch des Propheten Jeremia im 9. Kapitel:

"So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR."

Weisheit ist gut. Weise Menschen sind bedächtig und vorsichtig in ihrem Urteil. Wer wirklich weise ist, der weiß auch, dass die Weisheit eine Lebenshaltung ist, die gerade die Ungereimtheiten des Lebens nicht verdrängt, und gerade den Widersprüchen und Vieldeutigkeiten des Lebens standzuhalten versucht. Wer weise ist, der weiß, dass die menschliche Weisheit ihre Grenze hat. Es ist leicht, aus der Distanz die Welt zu betrachten. Aber wenn das Leiden uns selbst angeht, oder das Mitleid uns zu Herzen geht, da kann die Weisheit uns leicht abhanden kommen.

Stärke ist gut; moralische, körperliche, geistige Stärke. Aber moralische Stärke, das, was wir Anständigkeit nennen, das kann schnell zu Fall kommen, davor ist keiner sicher, der in Versuchung gerät.

Körperliche Stärke ist gut. Daran soll sich ein Mensch; freuen. Aber Bestand hat sie nicht. Da genügt schon oft ein Zahnschmerz oder ein Schnupfen, um uns zu lehren, dass der Leib anfällig ist.

Geistige Stärke, die kann etwas weniger anfällig sein, aber wenn der Leib verfällt, dann kommt sie auch dem Gescheitesten abhanden.

Und Reichtum, das braucht man kaum zu erläutern, dass der schnell vergehen kann. Wer auf der Flucht war, wer einmal alles verloren hat an Hab und Gut, der weiß, dass Reichtum nie sicher ist und der wird, wenn er klug ist, sich nicht darauf verlassen.

Deshalb sagt der Prophet: Keiner soll sich rühmen, dass er weise, stark oder reich ist, denn wer sein Leben daran festmacht, der fällt, wenn Weisheit, Stärke und Reichtum fallen. Seid dankbar für Weisheit, Stärke und Reichtum, aber baut euer Leben nicht darauf! Weisheit, Stärke und Reichtum sind keine ewigen Säulen, sie können dem Leben keinen Grund geben.

Stattdessen nun - im Kontrast dazu - sagt Jeremia, rühmt euch, dass ihr den HERRN kennt, das ist etwas Sicheres. Klug ist nur, wer Gott kennt. Wer Gott kennt, hat erkannt, dass Gott der HERR ist. Er hat erkannt, das Gott Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt, und nicht wir. Und eben das ist nun leicht gesagt. Gott kennen! Wer kennt Gott!? Ich glaube, dass ich zeitlebens damit nicht fertig werde. Wer kann im Geschehen dieser Welt und in seinem eigenen Leben erkennen, dass Gott barmherzig und gerecht ist, so, wie wir uns das vorstellen?

Zu Jeremias Zeiten hatten die Juden eine Art Lebensgleichung, die lautete: Wenn ich nach Gottes Geboten lebe und Gott gehorsam bin, dann wird Gott mein Leben segnen mit Wohlstand und Glück. Aber dann haben sie gemerkt, dass diese Rechnung nicht immer aufgeht. Spätestens bei Hiob im Alten Testament wird sichtbar, dass die Gerechtigkeit Gottes oft gerade nicht einsehbar ist. Wir kennen das aus unserem eigenen Leben.

Jesus sagt in der Bergpredigt: Gott lässt die Sonne aufgehen über gute und böse Menschen. Böse und gute Menschen erfreuen sich bester Gesundheit; böse und gute Menschen erleiden Unglück und Krankheit. Und das ist keine Gerechtigkeit nach unserer Fasson. Jesus selbst hat einmal bei einer Katastrophe, als in Siloah ein umstürzender Turm 18 Männer erschlug, darauf hingewiesen, dass diese nicht schuldiger waren, als alle anderen, die verschont blieben (Luk. 13, 1-5).

Gottes Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit sind nicht berechenbar Und wer Gott durch Jesus Christus kennt, der weiß, dass er ein Leben lang mit Gott weint und lacht, aufsteht und hinfällt, dankt und bittet und fragt. Der weiß, dass er geführt wird, aber eben auch durch finstere Täler, wo er den nächsten Schritt oft nicht genau kennt.

Wer Gott in Christus kennt, der erfährt, dass er von Gott Hilfe bekommt, und dass er sich zu Zeiten auch ganz verlassen fühlt.

Aber genau dieser Punkt ist so schwer nach außen hin zu erklären. Denn, was nützt der Glaube, wenn Gott nicht immer rettet und hilft? Wenn Menschen ermordet werden, die nicht schlechter waren als wir? Was nützt der Glaube? Hat mich eine Mutter gefragt, deren Kind verunglückte. Die harte Antwort darauf lautete: Der Glaube garantiert kein Wohlergehen! Wer Gott kennt, der wird geführt, der hat erlebt, dass eben Gott der Herr unseres Lebens und unserer Zukunft ist. Und dem bleibt nichts, als dass er - und das ist viel - nach vorn leben soll, und dass er nicht nachrechnen soll, was er hierfür oder dafür bekommt. Es gib“ kein garantiertes Wohlergehen. Es gibt nichts vor Gott zu verdienen. So, wie man Kinder auch nicht dafür bezahlt, dass sie ihren Eltern vertrauen. Weil es vor Gott nichts zu verdienen gibt.

Und darum bleiben Christen in dieser Welt wunderliche Leute. Unser Glaube bleibt nicht nur an diesem Punkt für Außenstehende merkwürdig unschlüssig. Und das sollen wir auch ruhig zugeben: Wir vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit, auch wenn wir seine Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit nicht immer erkennen. Wir glauben an seine Gerechtigkeit, auch wenn vieles in der erfahrenen Welt unserer Gerechtigkeit zuwiderläuft. Immer verweisen wir auf Christus: Er ist bei uns alle Tage, bis an der Welt Ende. Und dabei ist eben noch nicht aller Tage Abend. Mit uns nicht und auch mit der Welt nicht; es kommt noch Großes auf uns zu.

Gottes Gerechtigkeit gilt und seine Barmherzigkeit, nicht unsere.

Und wir haben auch noch nicht alles gesehen und es ist uns verheißen, dass auch nichts bleiben wird, so, wie es ist. Es ist alles in Begriffen von Unterwegssein zu verstehen. Es gilt vor allem, dem HERRN treu zu sein und unterwegs zu bleiben.

Deshalb sind Christen merkwürdige Leute, die können ihren HERRN nicht vorzeigen. Sie bekommen für den Glauben auch nicht handelsgemäß ein leichtes Leben garantiert, sondern sie bleiben IHM treu, weil ihr Herz ergriffen ist.

Ich will zum Schluss noch von so einem merkwürdigen Menschen erzählen. Von einem, der klug war und Gott kannte - so wie Jeremia sagt. Von diesem Menschen wissen wir etwas über seine Gotteserfahrungen, weil er ein Dichter war und den Vorteil hatte, dass er in Worte fassen konnte, was auch viele in dieser Gemeinde erfahren und erlebt haben.

Dieser Mann wurde im März 1607 in einer schlimmen Zeit geboren. Sein Vater war Bürgermeister in einem kleinen Ort. Er starb früh. Der Sohn wuchs in Armut auf, ging zur Schule und studierte dann. Nachdem er sein Examen gemacht hatte, war er 15 Jahre arbeitslos; hat gehungert und gefroren und etwa in dieser Zeit hat er die Worte gedichtet:

"Er gebe uns ein fröhlich Herz, erfrische Geist und Sinn / und werf all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz / ins’s Meeres Tiefe hin. (231, 5)

Er lasse seine Lieb und Güt um, bei und mit uns gehn, / was aber ängstet und bemüht, / gar ferne von uns stehn. (7)

Solange dieses Leben währt, sei er stets unser Heil, / und wenn wir scheiden von der Erd, / verbleibt er unser Teil (8)."

Merkt ihr, solche Zeilen klingen neu, wenn man die Lebenslage des Dichters im Sinn hat.

Mit 44 Jahren kam er dazu, das erste Mal in seinem Beruf zu arbeiten. Aber da verdiente er kaum etwas und seine Kollegen sind böse zu ihm und verleumden ihn. In dieser Zeit singt und betet er:

"Seine Strafen, seine Schläge, / ob sie mir gleich bitter seind, / dennoch, wenn

ichs recht erwäge, / simd es Zeichen, dass mein Freund, / der mich liebet, mein gedenke / und mich von der schnöden Welt, / die uns hart gefangen hält, / durch das Kreuze zu ihm lenke. - Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit. (232, 9)

Das weiß ich fürwahr und lasse / mirs nicht aus dem Sinne gehn: / Christenkreuz hat seine Maße / und muss endlich stillestehn. / Wenn der Winter ausgeschneiet, / tritt der schöne Sommer ein; / also wird auch nach der Pein, / wers erwarten kann, erfreuet. - Alles Ding währt seine.Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit." (10)

In seiner Welt ist wenig von Gerechtigkeit zu sehen. Aber er singt und betet trotzdem weiter zu Gott und vertraut, trotz aller Widerwärtigkeit, auf die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes.

Dann kann er heiraten. Mit 48 Jahren findet er eine neue Arbeitsstelle. Da hat er sein Auskommen. Seine Familie gedeiht, er ist glücklich. Aber auch dort kann er nur 8 Jahre bleiben. Er muss dann seine Arbeitsstelle verlassen - wir würden sagen; er fliegt raus aus dem Dienst - weil er um seines Glaubens willen der Obrigkeit im Staate widersprochen hat. Mit seiner Frau und seinen fünf Kindern sitzt er plötzlich auf der Straße. Und da dichtet er:

"Alles vergehet, / Gott aber stehet ohn alles Wanken; / seine Gedanken, sein Wort und Wille hat ewigen Grund. Sein Heil und Gnaden / die nehmen nicht Schaden, heiler im Herzen / die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund." (346, 8)

Und weiter: "Willst du mir geben, / womit mein Leben ich kann ernähren, / so lass mich hören allzeit im Herzen dies heilige Wort: "Gott ist das Größte, / das Schönst und Beste, Gott ist das Süßte / und Allergewisste, aus allen Schätzen der edelste Hort." (10)

Ein Jahr später hat er wieder Arbeit gefunden. Und kaum ist er dort zur Ruhe gekommen, da stirbt erst seine Frau, die er sehr geliebt hat, und danach sterben vier Kinder kurz hintereinander an einer schlimmen Krankheit. In einem Jahr bleibt von seiner Familie mit fünf Kindern nur er und sein sechsjähriger Sohn übrig. Und er betet:

"Hoff, o du arme Seele, / hoff und sei unverzagt! Gott wird dich aus der Höhle, / da dich der Kummer plagt, mit großen Gnaden rücken; / erwarte nur die Zeit, 50 wirst du schon erblicken / die Sonn der schönsten Freud. (294, 6)

Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl." (7)

Paul Gerhardt lebt noch acht Jahre. Als er einsam stirbt, so wird erzählt, hat er geflüstert die Worte: "Komm Herr!" Und dann: "Kann uns doch kein Tod nicht töten, sondern reißt unsern Geist aus viel tausend Nöten." (297, 8)

Dann ist er gestorben. Zu seiner Beerdigung sind wenig Leute gekommen. Und heute weiß keiner genau, wo er begraben ist.

Er, von dem ich erzählt habe, ist Paul Gerhardt. Von ihm stehen 33 Lieder in unserem Gesangbuch. Diese Lieder sind gesungene Gebete. Er war klug, weil er Gott kannte. Er hat Glückliches und Schreckliches erlebt. Vieles in seinem Leben konnte er nicht aufrechnen, konnte er nicht verstehen. Und das hat er auch nicht verharmlost, sondern damit hat er gelebt und hat sich damit nicht aufgehalten; hat nach vorn geschaut. Denn er hat sein Leben immer als eine Reise zu Gott verstanden; einen Weg, auf dem er sich zu bewähren hatte, Und weil viele von uns ähnliches erlebt haben, rühren uns seine Worte.

Gott übt Barmherzigkeit und Recht und Gerechtigkeit auf Erden, nicht wir. Wir sollen nachfolgen und dienen und uns der Führung Seines Geistes anvertrauen, alles andere ist Seine Sache - AMEN!