Predigt 619

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Predigt vom 15.05.1988 - Pastor Schnabel - Jeremia 31, 31-34

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!

Liebe Gemeinde!

Mit Christus hat Gott bei der Erziehung der Menschen ein zweites Kapitel begonnen in diesem neuen Bund, der mit Christus geschlossen wurde.

Wir hören heute Worte aus dem Alten Testament vom Propheten Jeremia. Der lebte noch im alten Bund, im Alten Testament, im alten Vermächtnis Gottes, etwa 600 Jahhre vor Jesus. Aber Jeremia hörte von Gott schon eine neue Verheißung und spricht sie aus. Jeremia kennt Jesus noch nicht, aber er weiß; Gott wird einen neuen Bund machen. Dabei werden die Zehn Gebote nicht ungültig, aber sie geraten in einen anderen Zusammenhang. Was vorher mit Opfer und Strafe dem Menschen einen äußeren Halt gab, soll uns nun ins Herz gegeben werden. Der Sinn soll den Menschen so einleuchten, dass sie Gottes Liebe erkennen und von Gottes Geist so angerührt werden, dass sie das Gute aus der Überzeugung ihres Herzens heraus tun.

So hört nun, was Jeremia, der Prophet, im 31. Kapitel schreibt:

"Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda" - das ist Nord- und Südreich, es gehört beides zusammen - "einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm und sie aus Ägyptenland führte, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: "Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den anderen noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihr Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken."

Gott segne an uns dieses Wort!

Liebe Gemeinde!

Wenn das Gesetz Gottes uns erst ins Herz gegeben ist, dann brauchen wir keine Belehrung mehr. Dann sind wir so eins mit Gott, dass wir gar nicht mehr ausdrücklich Gutes tun, weil wir kein Verlangen nach dem Bösen mehr haben; sondern alles ist gut. Es kommt von innen heraus, aus dem Herzen, wie aus einem Guss. Das sind glückliche Momente, die wir in unserem Leben erfahren können, dass wir das Gute so von innen heraus tun, dass es uns gar nicht bewusst ist, dass es gut ist. Es ist der Zustand, den wir erbitten und um den wir beten, wenn wir wünschen: "Dein Reich komme und dein Wille geschehe!"

Gott hat in der Erziehung der Menschen dieses neue Kapitel mit Christus begonnen, wo es nicht mehr um Strafe geht, sondern wo es um die Überzeugung des Herzens geht.

Das ist noch nicht so lange her. Wir hinken auch in den Lektionen nach, wir haben noch die alten Lektionen nicht ganz gelernt. Aber schon dämmert uns die Bedeutung des neuen Bundes herauf.

Am Ende seines irdischen Lebens reicht uns Christus den Kelch und sagt: "Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut".Christus hat das eingelöst, was Jeremia am Horizont leuchten sieht, aber noch nicht genau erkennen kann.

Christus ist der erste Mensch, der Gottes Gesetz im Herzen und im Sinn ganz und gar aufgenommen hat, und der aus dieser Quelle der inneren Kraft heraus handelt und lebt. Christus ist zugleich das Ende, das "letzte Opfer der alten Opferei. Christus nimmt die Strafe auf sich und beendet damit den alten Bund, in dem es um Opfer und Strafe ging.

Der neue Bund geht anders: Kein Opfer mehr, keine Strafe mehr. Das hat Christus gleichsam auf sich genommen. Ohne Opfer und ohne Strafe solle wir nun aus der Gottesfülle heraus leben; und das traut uns Gott zu.

Wer sich das ganz klar macht, der muss davon erschüttert sein und auch beschämt.

Natürlich können wir damit noch nicht umgehen. Und wir wären nicht die ersten Christen, die Christus geradezu einen Vorwurf machten und sagten: Christus, du überforderst uns, wir brauchen eine feste Hand, wir brauchen hin und wider Schläge! Oder, wie man sprichwörtlich sagt, wir brauchen’s hin und wieder, "dass uns die schwarze Kuh tritt". Wir brauchen hin und wieder einen Dämpfer, wenn wir übermütig und leichtsinnig werden. Aber Christus lässt sich darauf nicht ein.

Wir Menschen sind es, die Gott immer wieder in dieses alte Spiel hineinziehen, auf das alte Terrain, wo wir uns Sicher fühlen.

Aber Christus lässt sich nicht darauf ein, er besteht darauf, dass wir hinauf leben zu Ihm. Christus glaubt an uns, er hält es für möglich, und sogar sein Tod am Kreuz hat ihn nicht davon abbringen können. Unbeirrbar hält er an uns fest und lässt dir und mir nichts durchgehen. Christus besteht auf unserer Würde als Gottes Kinder und baut uns auf mit seiner Liebe.

Natürlich möchten wir Menschen wieder neue Gesetze haben, neue Lehrsätze, neue Strafregister und ein neues Opfern, damit wir was zum Handeln haben mit Gott. Damit können wir umgehen, das haben wir gelernt; zu mogeln, einander auszustechen, es so hinzudrehen, dass wir auch noch mit einem finsteren Herzen nach außen glänzend dastehen können. Aber Jesus durchschaut das Spielchen und schneidet uns diesen Weg ab, weil der wieder in die Sklaverei führt.

Sicherlich ist eine erzwungene Ordnung besser als keine. Aber Jesus sagt zu uns:

Es ist unter eurer Würde, so zu leben, weil ihr meine Schwestern und Brüder seid. Vor Gott sollen wir nicht mehr in den Staub fallen. Gott sollen wir nicht zu bestechen versuchen wie eine finstere Schicksalsmacht. Zu Gott sollen wir Abba sagen; lieber Vater, hier bin ich, dein Geschöpf! So wie es uns Jesus gelehrt hat.

Das knüpft zwar an den alten Bund an, ist aber etwas ganz Neues.

Die Gebote gelten im alten wie im neuen Bund. Der alte Bund war der erste Schritt.

Wir kennen das von früher aus dem Religionsunterricht und auch aus der Predigt: Das versklavte, verkommene Volk Israel, das nimmt Gott bei der Hand, wie Jeremia sagt, führt sie aus der Sklaverei in Ägypten heraus in das gelobte Land, gibt ihnen erst mal die Zehn Gebote und schlägt zu, wenn sie die Gebote nicht halten.

Das ergibt gleichsam eine erste Ordnung, die das Volk voranbringt.

Aber diese Ordnung wird nur mühsam gehalten, denn sie lebt von der Angst vor der Strafe. Es ist ein formaler Gehorsam. Der formale Gehorsam hat die Gefahr: Wenn die Strafe mal ausbleibt, dann bricht der Gehorsam zusammen. Wie man im Sprichwort sagt: Ist die Katze erst aus dem Haus, dann springen die Mäuse über Tische und Bänke.

Die Menschen sind noch nicht mit dem Herzen ergriffen. Sie sind wie unwillige Mietlingen, so übersetzt das Luther an einer Stelle. Wie Leute, die Dienst nach Vorschrift machen und das nur so machen, dass sie nicht erwischt werden und nicht belangt werden können. Aber sie sind noch keine Kinder Gottes, noch keine Geschwister Jesu, noch keine freien Menschen, die mit Würde die Dinge tun, richtig und gut, ob sie nun kontrolliert werden oder nicht.

Der neue Bund ist der zweite Schritt.

Mose hat das Volk aus der äußeren Sklaverei in die äußere Freiheit geführt. Nicht umsonst vergleicht die Bibel Jesus mit Mose. Denn im neuen Bund, wo der zweite Schritt getan wird, da kommt Christus und hat es auf unser Herz abgesehen. Er führt uns gleichsam aus der inneren Sklaverei in die innere Freiheit und in die innere Ordnung.

Jesus ist der zweite Schritt.

Menschen werden getauft, werden wiedergeboren. Sie leben aus Gottes Gebot. Aber nun nicht mehr aus Angst; wenn ich nicht gut bin, dann krieg ich eins drüber, sondern sie leben aus der Ergriffenheit ihres Herzens. Von Gottes Geist erfüllt leuchten ihnen die Gebote so ein, dass sich die guten Taten wie von selbst ergeben.

Jesus erzählt im Matthäusevangelium von dem seligen Knecht, der von seinem Herrn den Auftrag bekommt, das Haus zu verwalten. Und der selige Knecht tut das von Herzen.

Sein Herr reist ab und egal, wann er kommt, der selige Knecht braucht keine Kontrolle und keine Strafe, weil er in Übereinstimmung mit dem Geist seines Herrn handelt und lebt. Jederzeit kann der Herr kommen, er wird seinen Knecht als treuen Haushalter vorfinden.

Und der andere, der nur immer auf Schläge und Kontrolle aus ist, der denkt sich: Ach, der Herr, der kommt noch lange nicht, und der behandelt die Menschen schlecht und dann trifft ihn natürlich der Zorn.

Erst da, wo uns weder Strafe noch Kontrolle drohen, erweist sich die Freiheit und die Würde eines Menschen. Das reicht bis in unsere Arbeit hinein.

Zwei Konfirmanden gehen durch ein Kaufhaus, das spärlich bewacht ist. Sie gehen vorne in das Kaufhaus rein, sie kommen hinten aus dem Kaufhaus wieder raus. Und sie haben beide nichts gestohlen. Aber der eine, der hat nichts gestohlen, weil er Angst hatte, erwischt zu werden. Und der andere hat nichts gestohlen, weil ihm der Diebstahl unter seiner Würde ist. Dieser andere ist wirklich frei; der hat das siebte Gebot mit dem Herzen begriffen. Dem kannst du deine Habe anvertrauen, er wird sie gut verwahren.

Als ich so zehn oder elf Jahre alt war, habe ich einmal schöne Sommerferien in Mecklenburg erlebt. Da kannte ich einen Landarbeiter, einen Traktoristen, der hatte mir mal einen merkwürdigen Satz gesagt. "Christian, du kannst alles machen, du darfst dich nur nicht erwischen lassen!" Damals habe ich lange über diesen Satz nachgedacht und hatte von Anfang an das Gefühl: Irgendwas stimmt an diesem Satz nicht, obwohl er doch so plausibel ist: Kannst alles machen, darfst dich nur nicht erwischen lassen! Bis mir dann klar geworden ist, dass dieser Satz genau diese Sklavenmoral ist, die uns eigentlich klein und würdelos und unfrei macht. Du kannst eben nicht alles machen! Du schadest dir selbst, wenn du dem göttlichen Geist zuwider handelst. Mit jeder Betrügerei schaden wir uns selbst; mehr als dem Menschen, den wir da betrügen.

In meiner Heimatstadt Leipzig gab es mehrere Krankenhäuser, und zwei davon waren kirchliche Krankenhäuser; ein katholisches und ein evangelisches Diakoniekrankenhaus. (Wir haben vor vier Wochen in der Kollekte dafür gesammelt.) Wer damals krank wurde und sich ein bisschen auskannte, der versuchte ‚unbedingt in eines der kirchlichen Krankenhäuser zu kommen; zu den Diakonissen oder zu den Nonnen. Und selbst die Funktionäre, die ja von der Kirche nichts hielten, die wussten, dass man dort besser aufgehoben war. Und sie wussten das deshalb, weil ihnen klar war, dass da ein Mensch über die Dienstvorschrift hinaus und ohne Ansehen seiner Partei geachtet, gepflegt und würdevoll behandelt wurde. Dass da eine Diakonisse oder eine Nonne auch länger blieb, um einem Menschen beizustehen.

Merkt ihr, das waren Menschen, die Gottes Gebot mit dem Herzen begriffen hatten.

Menschen, die das mit dem Herzen begriffen haben, die brauchen eigentlich keine Dienstvorschrift mehr, denn sie handeln frei und würdig; ohne, dass sie sich dabei großartig vorkommen.

Solche Menschen sind mir in allen Berufen begegnet und in allen Altersstufen. Das ist etwas sehr Beglückendes, zu sehen, dass Menschen die Gebote Gottes auf den Tafeln ihres Herzens geschrieben haben. Die handeln nämlich gut, ohne dass ihnen das als etwas Besonderes bewusst ist.

Ich kenne einen Automechanikermeister in der Nähe von Rotenburg, dem kann ich einen Motor auf den Tresen setzen und einen Blankoscheck daneben legen und eine Woche später wiederkommen, und dann ist der Motor repariert und ich kann absolut vertrauen, dass da keine Mogelei geschieht, dass er das nach allen Regeln seiner Handwerkskunst gemacht hat. Und das kommt diesem Mann nicht als was Besonderes vor, sondern das kommt aus seiner inneren Würde heraus. Und diese Würde, die können wir einander erweisen in jedem Beruf, dem wir nachgehen.

Das geht so weit, dass man früher gesagt hat: Das protestantische Dienstmädchen, das im lutherischen Glauben aufgewachsen ist, das putzte auch hinter dem Klavier den Staub, nicht, weil die Herrschaft so lange Finger hatte, um da hinten zu kontrollieren, sondern weil das protestantische Dienstmädchen seine Arbeit als Gottesdienst verstand. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber der Punkt, die Pointe, ist genau richtig. Hier begreift ein Mensch seine Arbeit als einen Gottesdienst, als etwas, das in seiner Güte und Qualität auch mit seiner Würde zu tun hat.

Jesus erzählt am Ende des Matthäusevangeliums vom Weltgericht; da, wo er die Schafe von den Böcken sondert und wo die Gesegneten zu ihm kommen. Er ruft sie zu Sich, weil sie Gutes getan haben und sagt: Ihr erbt mein Reich! Und das Rührende und das wunderbare an dieser Geschichte ist, dass die Gerechten, die Gesegneten, zu ihm kommen und sagen: Herr, wir wissen gar nicht, warum du uns zu dir rufst: Wann haben wir denn Gutes getan? Ja ja, sagt er, ihr habt geteilt, ihr habt mich besucht. Ihr habt mich getränkt, als ich durstig war und mich gespeist, als ich hungrig war, und ihr habt mich besucht, als ich gefangen war. Und da haben sie gesagt: Herr, wann haben wir das denn getan? Und dann erklärt es Jesus ihnen, er sagt: "Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!" Aus dem Inneren eures Herzens heraus, das kam euch gar nicht als was Besonderes vor. Denn wenn ein Gebot ins Herz aufgenommen ist, dann ist die Tat, die daraus fließt, nur folgerichtig und selbstverständlich.

Da ist durch Christus das geschehen, wovon Jeremia sagt: Das Gesetz Gottes ist diesen Gesegneten so ins Herz gegeben, so in den Sinn geschrieben, dass es ihnen gar nicht mehr als etwas Besonderes vorkommt.

Wenn wir doch nur immer begreifen würden, dass jede Mogelei und jede Gemeinheit und Bosheit, die wir an anderen begehen, unserer eigenen Seele schadet.

In der Epistel, die ein sehr dichter, tiefer Text war, haben wir gehört, wie Paulus auf Knien betet, "dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne".

Haben wir diesen Christus in unseren Herzen, dann haben wir alles.

Wir sind in Christus getauft in den neuen Bund hinein. Aber noch brauchen wir die Lehre, Gottes führendes Wort von Tag zu Tag, die Vergebung der Sünden. Wir brauchen Gebote immer wieder und können sie erst dann weglegen, wenn wir sie mit dem Herzen begriffen haben.

Das ist wie mit einem Schulbuch, das kann man auch erst weitergeben, oder verkaufen, oder weglegen, wenn man alles aufgenommen hat, was drin steht.

Aber wir haben einen großen Bruder, das ist Jesus Christus, und der hat uns davon befreit nach den Zensuren, nach den Belohnungen und den Strafen zu schielen, während wir Gottes Gebote mit dem Herzen lernen.

Uns gehen Gottes Gebote zu Herzen, weil wir Christus erkannt haben. Weil wir in ihm erkannt haben, dass wir Gottes Kinder sind, die geliebt werden "ohn all ihr Verdienst und Würdigkeit". Es geht nicht mehr um Verdienst im neuen Bund, sondern es geht darum, dass wir unsere Würde von Christus annehmen, dass wir Seine Liebe erkennen und dass wir unsere Herzen so einstimmen lassen, dass das Gute aus uns herauskommt, ohne dass wir es hindern können - AMEN!

Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christu Jesu - AMEN!