Predigt vom 01.09.1985 - Pastor Schnabel - 13.S.n.Trin. - Lk. 10, 25 - 27
Predigttext: "Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: >> Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? << Er aber sprach zu ihm: >> Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? << Er antwortete und sprach: >> Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst <<"
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN!
Liebe Gemeinde!
Jesus lässt sich nicht auf die Diskussion mit dem Schriftgelehrten ein. Er sagt ihm auf den Kopf zu: Du weißt es ja längst. Und nun tue auch das, was du als gut erkannt hast.
Die erste Frage des Schriftgelehrten ist im Grunde der Versuch, Jesus in eine Falle zu locken. Die zweite Frage ist der Versuch, zu fliehen vor der Wahrheit durch Spitzfindigkeit. Du weißt es doch, sagt Jesus, nun tue es doch auch wirklich, dann wird daraus ein erfülltes Leben.
Der Schriftgelehrte sucht Ausflüchte. Argumentieren kann er ja, denn dumm ist er nicht, und also setzt er bei der Definition ein. Er packt sich das Wort "Nächster" und sagt: Moment, wer ist denn mein Nächster? Und darauf gibt Jesus - der für mich auch ein hervorragender Pädagoge ist - keine direkte Antwort, sondern er erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Jesus als Pädagoge leuchtet immer hervor in seinen Geschichten, denn er spürt sofort, worauf der andere hinaus will und zwingt ihn durch die eigene Einsicht in die Richtung, die Gott verheißt.
Jesus gibt also als hervorragender Pädagoge keine direkte Antwort, sondern er erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Eine ganz einfache Geschichte, wo alles Überflüssige weggelassen ist. Die Personen in dieser Geschichte tauchen auf und verschwinden dann wieder. Es ist so ähnlich wie ein Holzschnitt, nur das Wichtigste ist herausgearbeitet. Alles Unwichtige ist weggelassen. Und daran mag es liegen, dass diese Geschichte durch die ganze Zeit der Christenheit hindurch immer eine hervorragende Bedeutung gehabt hat. Und am Ende der Geschichte fragt Jesus den Schriftgelehrten: "Wer war dem der Nächste, der unter die Räuber fiel?" Und da muss der Schriftgelehrte selbst antworten: Der, der die Barmherzigkeit getan hat. Jesus hat den Schriftgelehrten selbst zur Einsicht gebracht und sagt dann, was er am Anfang schon sagte: Geh hin und mach es ebenso.
Diese Geschichte hat einen Rahmen, und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter steckt in diesem Rahmen. Jesus und der Schriftgelehrte im Gespräch; erst die Frage, dann die Antwort von Jesus in Form eines Gleichnisses. Und am Ende wieder das Gespräch zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten. Das Ergebnis dieses Gespräches ist eine klare Aussage. Im Tun der Barmherzigkeit ist das erfüllte Leben zu finden; im Tun. Und darüber gibt es nun nichts mehr zu diskutieren, man muss es tun und erleben, oder man tut es nicht und spekuliert. Aber spekulativ ist diese Wahrheit nicht zu erfahren. Jesus hat in der Geschichte vor allem auch die Blickrichtung herumgedreht. Der Schriftgelehrte kommt als eine Art Handelspartner auf Jesus zu und sagt: Wer ist denn mein Nächster? Und Jesus dreht das herum und sagt: Du sollst nicht fragen: Wer ist mein Nächster? Sondern: Wem kann ich zum Nächsten werden? Im Augenblick der Barmherzigkeit geht es nämlich um den, der die Hilfe braucht, und nicht um den, der die Hilfe gibt. Und nun ist dieser Samariter, der es ja richtig macht im Gleichnis, kein Mensch, der den ganzen Tag herumläuft und sagt: Was kann ich denn mal Gutes tun? Wo ist denn mal eine Gelegenheit, wo ich Gutes tun kann? So ist der Samariter gar nicht. Er taucht auf als ein Mensch, der seinen täglichen Geschäften nachgeht, der morgens aufgestanden ist und gefrühstückt hat. Er hat nicht überlegt, was er mal Gutes tun kann. Sondern er hat seinen Beruf, seine Aufgabe, wie jeder von uns. Und als er dann auf seinem normalen Geschäftsweg plötzlich diesen geschundenen Menschen sieht, der sozusagen seinen Lebensweg kreuzt, der ihm geschickt wird, da sieht er und hilft. Im Gleichnis sagt Jesus ein ganz kurzes Wort: Er sieht und hat Erbarmen.
Aus dem Folgenden wissen wir, dass der Samariter keineswegs einer ist, der nun von da an sein Geschäft aufgibt und nur noch auf den Straßen nachsieht, wo jemand liegt, der da überfallen und ausgeraubt wurde. Der Samariter gibt sein Geschäft nicht auf. Er opfert sich auch nicht auf, wie es manchmal theatralisch heißt: Er hat sich aufgeopfert. Sondern er sieht und tut und hat Erbarmen. Er reist weiter in seinen Geschäften. Er will auf der Rückreise wiederkommen und sehen, was er noch tun kann an dem, der ihm auf den Lebensweg gelegt ist. Da ist alles aus einem Guss. Und während der Samariter "sieht und Erbarmen hat", schielt er auch nicht mit einem Auge nach Gott und sagt: Gott, siehst du auch, was ich hier Gutes tue? Und er kommt sich auch nicht besonders verdienstvoll vor. Er tut, er hat Erbarmen mit dem, den Gott ihm in den Weg legte.
Ich halte das deshalb für so wichtig, weil wir Christen leicht zur Theatralik neigen. Ich kann diese Situation nicht ausstehen, wenn wir im Sessel sitzen und von der Not in der Welt reden, oder wenn wir uns gegenseitig darin bestärken, dass wir natürlich für den Frieden sind und für die Versöhnung, für die Gerechtigkeit. Natürlich wissen wir genau, was gut und böse ist. Wir wissen genau - wie der Schriftgelehrte: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Aber tun sollen wir‘s. Wir reden davon, dass wir‘s ja doch nicht ändern können. Oder wir reden davon, dass die Russen das, und die Amerikaner jenes tun sollten, oder die Kirche, oder der Bundestag. Alle sollen etwas tun, und wir sitzen im Sessel und reden davon, wie böse oder dumm die anderen sind - die da oben oder die da unten. Ich würde ja - wieder theatralisch - in die Entwicklungshilfe gehen; die Verhältnisse ändern, das System. Aber die Verhältnisse sind nicht so........ Dieses Gerede ist Schriftgelehrten-Gerede. Davon wird keiner heil und keiner satt und keiner getröstet und niemandes Wunden verbunden. Der Blickwinkel solcher Schriftgelehrten-Gespräche ist von vornherein schon so angelegt, dass du nichts tun kannst, weil du auch nichts tun willst. Bei dem Gerede kommt der einzelne "Nächste" garantiert nicht in den Blick, denn es steht von vornherein fest, dass es um die großen Dinge geht. Und die großen Dinge, die verdampfen meistens in Schall und Rauch. Darum erregen solche selbst-zerfleischenden Gespräche manchmal einen anregenden Schauder, vielleicht auch etwas Selbstgerechtigkeit, aber sonst nichts.
Der Tempeldiener und der religiöse Spezialist gehen vorüber, sie sind vom Amts wegen nicht zuständig. Sie dürfen sich die Hände tatsächlich nach den kultischen Gesetzen des Volkes Israel nicht schmutzig machen, nicht mit einem Verwundeten umgehen. Aber sie könnten ja über diesen Schatten mal springen. Sie eilen vielleicht gerade zu einem großen Kongress, wo von der globalen Not die Rede ist, aber der arme Mensch, den Gott ihnen in den Weg legt, den übersehen sie.
Mir ist gestern ein Licht aufgegangen. Ich habe nämlich überlegt: Wie ist das mit den großen "Samaritern" des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen? Da fiel mir z.B. Henri Dunant ein, der Begründer des Roten Kreuzes. Der Mann war Kaufmann. Und der hat sich nicht von Klein auf gesagt: Ich will jetzt ein guter Mensch werden und Gutes tun an anderen Menschen. Sondern er war Kaufmann, das war sein bürgerlicher Beruf. Und zufällig gerät er auf Geschäftsreise in die Schlacht von Solferino 1859. Da war die Wehrtechnik schon so schrecklich, dass hinterher viele verwundete, zerfetzte Menschen herumliegen. Er sieht - als Privatmann - diese Menschen in ihrem Blut liegen, zieht sein Hemd aus und reißt es in Streifen und verbindet den Nächstliegenden. Er sammelt und hilft und alarmiert hinterher die feine Gesellschaft und tut viel Gutes. Und das führt dann später zur Gründung des Roten Kreuzes und zur Genfer Konvention.
Dieser unmittelbare Antrieb: Sehen und Erbarmen haben, der verflüchtigt sich dann irgendwann in einer Institution. Es ist mit dem Roten Kreuz genauso, wie mit vielen Seiten unserer Kirche. Wer in diesen Tagen gerade mal liest, wie diese Institution ihre Mitglieder wirbt, erkennt: das ist nicht mehr der Geist Henri Dunants. Oder nehmen wir einen anderen: Johann Hinrich Wichern, der hat auch nicht geplant und gesagt: Ich will jetzt mal Gutes tun. Sondern er hat unmittelbar in den Industriezentren Deutschlands im 19. Jahrhundert ganz konkret die Not der Arbeiter erlebt. Er hat schwindsüchtige Kinder gesehen und überfüllte Wohnungen und schreckliche Ausbeutung. Das ist ihm an’s Herz gegangen und er hat das "Rauhe Haus" in Hamburg gegründet. (Innere Mission) Und von da aus ist dann das Diakonische Werk entstanden. Er hat Not gesehen an einzelnen Menschen und hatte Erbarmen. Auch das ist wieder zur Institution geworden und braucht neue Impulse.
Oder da ist ein Mann 1945, der steht in Stuttgart auf dem Bahnhof und will eigentlich mit dem Zug wegfahren. Da sieht er in einer Ecke des Zuges verwahrloste Jugendliche liegen, deren Eltern auf der Flucht aus dem Osten umgekommen sind. Die Kinder streunen herum und haben keine Bleibe, keine Ausbildung, nichts. Der Krieg ist gerade zu Ende, Deutschland ist zusammengebrochen. Da hat er seine Fahrkarte verfallen lassen und hat diese Jugendlichen mitgenommen. Er hat sie in einem leerstehenden Bauernhof untergebracht, hat Lehrstellen für sie gesucht und Schulen. Er wollte eigentlich woanders hin, aber er sah diese Kinder an seinem Lebensweg und hat getan, was nötig war. Und das war Führung.
Solche "Führung" geschieht auch in unserem Leben.
Das sind nun bekanntgewordene Geschichten. Man könnte auch noch von Mutter Theresa reden. Mutter Theresa hatte auch nicht vor, die Sterbenden zu trösten. Sie war Lehrerin und sie sagte sogar, dass sie sehr viel Lust hatte an der Wissenschaft und auch so ein bisschen intellektuellen Hochmut in sich aufkommen sah. Aber auf ihren Weg durch Kalkutta lagen die Sterbenden an ihrem Weg - und sie ist nicht daran vorbeigegangen. Sie sah und hatte Erbarmen und tat das, was sie nicht geplant hatte.
Das ist nun wichtig und das haben diese Geschichten, die ich eben erzählt habe - und da gibt es viele auch kleine unbekannte Geschichten - das haben sie alle gemeinsam: Er oder sie sah und hatte Erbarmen. Und es ist nie die Rede davon, dass derjenige, der "sah und Erbarmen hatte", hinterher gesagt hätte: Jahrelang habe ich mich aufgeopfert! Nie ist die Rede davon, sondern sie haben’s immer als einen Teil ihres erfüllten Lebens angesehen, sie konnten gar nicht anders. Sie haben es als einen Segen erfahren. Sehen und Tun sind da aus einem Guss. Und darum sagt Jesus: Dieses "Sehen und Tun" aus einem Guss, das ist das ewige Leben. Ohne diese unmittelbare Ergriffenheit geschieht nichts.
Also, was gibt”s zu lernen? Du musst gar nicht herumsuchen und beschließen: Jetzt will ich mal Gutes tun. Und du musst auch nicht das Gefühl haben: Ich muss nun das gleiche Großartige tun wie Henri Dunant oder Johann Hinrich Wichern oder Mutter Theresa. Du sollst tun wie der Samariter; du sollst in deinem Beruf tüchtig sein und redlich arbeiten und einen wachen Blick haben für das, was sich auf deinem Lebensweg ereignet. Was dir Gott in den Weg legt kann groß oder klein sein. Genau an deinem Weg gibt es Menschen, denen du der Nächste werden kannst. Und selig bist du, wenn du siehst und Erbarmen hast, wenn du den Augenblick erkennst und tust was nötig ist und dem, der dich braucht, der Nächste wirst. Und ob dann daraus ein großes Werk wird, was meistens hinterher wieder zur Institution gerinnt, oder ob es außer dir und dem Anderen, dem du hilfst, einer merkt oder nicht, das spielt gar keine Rolle, das ist ganz gleichgültig. Vielleicht sollst du nur "kleine Brötchen backen", wie man so sagt. Aber jemand, der kleine Brötchen in seinem Leben backt, der kriegt eher einen anderen Menschen satt, als einer, der immer von der großen Not redet und gar nicht dazu kommt, den Teig zu kneten und den Ofen anzuheizen; wie einer, der nicht hilft, weil er meint, die Hilfe sei doch nicht groß genug, es würde sich doch nicht lohnen.
Es ist nichts zu kostbar, einem Menschen zu helfen. Und denkt daran: vielleicht liegst du einmal auf dem Weg eines anderen Menschen; auf dem Lebensweg eines anderen Menschen. Was wäre denn, wenn der dich anschauen und sagen würde: Das ist kein Projekt für mich, das ist zu kümmerlich, ich will nur eine große Sache anfangen. Das wäre schlimm.
Lass Gottes Liebe in deiner Seele wirken und lass Jesu Werk durch deine Hände geschehen. In dem Augenblick, wo du lebst und wo du bist, sollst du tun was ER sagt, so wirst du leben.
AMEN!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu - Amen!