Predigt vom 10.11.1985 - Pastor Schnabel - Martinstag - Matthäus 25, 31-40
Predigttext:
"Jesus sprach zu seinen Jüngern: "Wenn der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan."
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN!
Liebe Gemeinde!
Wir haben im Evangelium die Geschichte vom Weltgericht gehört. Im Lündeburger Rathaus ist diese Szene auf einem großen Wandbild dargestellt in dem Ratszimmer mit dem schön geschnitztem Holzgestühl. Dort ist bildhaft dargestellt, was die Bibel mit den Worten beschreibt: Am Ende der Zeit kommt Christus und hält Gericht. Und da kommt dann strahlend zu vollkommener Gültigkeit hervor, was jetzt noch im Verborgenen liegt. Es wird dann Gottes Recht gesprochen, den einen zur Freude und zum Trost, und den anderen zum Jammer, weil sie dann erkennen, dass sie falsch gelebt haben; dass sie ihr Leben versäumten, es in die falsche Sache investiert haben.
Ob ein Mensch Gottes Gebote über sich gelten lässt oder nicht, das scheint in unserer Welt zunächst gleichgültig zu sein. Zu allen Zeiten neigen die Menschen dazu, leichtfertig zu sagen: Ach, es ist doch egal, wie ich‘s mit Gott halte! Ob Menschen sich sorgen um andere Menschen, die hungert und dürstet und friert, oder nicht - sie werden immer einen plausiblen Grund finden, nicht zu helfen, wenn sie nicht helfen wollen. Ob freie, gesunde Menschen, die eine Heimat haben, Fremde aufnehmen und Kranke und Gefangene besuchen, oder ob sie das nicht tun, das scheint in ihr Belieben gestellt; zwingen kann sie dazu keiner. So ist die Rechtslage in unserer Welt.
Aber Christus hat andere Maßstäbe in diese Welt gebracht: Das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit. Christus hat nie einen Menschen dazu gezwungen, sich seiner Liebe und seinem Geist auszusetzen. Er hat uns als freie Menschen zu dem guten Leben eingeladen. Und Jesus hat mit seinem eigenen Leben deutlich gemacht, dass sich am Ende unseres Lebens alles daran entscheidet, ob wir geliebt haben, ob wir barmherzig waren, ob wir seine neue Gerechtigkeit über uns gelten ließen. Christus betont immer wieder: Ihr müsst es leben, dann habt ihr teil daran, sonst wird es nur eine religiöse Freizeitbeschäftigung.
Bemerkenswert an dieser Geschichte vom Gericht ist auch, dass die Gerechten von ihrer Gerechtigkeit selbst gar nichts wissen. Sie finden sich nach dem Prozess plötzlich auf der rechten Seite wieder und fragen: Herr, wann haben wir denn....? Wann haben wir dir zu essen, zu ‘trinken und anzuziehen gegeben? : Wann haben wir deine Wunden gepflegt? Wann haben wir dich im Gefängnis besucht? Und auf diese Fragen antwortet Christus ihnen das Gleiche, was er auch dem Heiligen Martin im Traum sagt: "Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan".
Merkt ihr? Die Gerechten haben nicht nachgerechnet wie die Musterschüler: Wenn ich Gutes tue, dann bekomme ich eine Eins von Gott. Die Gerechten sehen, haben Erbarmen und tun das Richtige im richtigen Augenblick; sie tun, was sie gerade können. Was sie sind und haben, damit helfen sie wie der Martin. Als der Heilige Martin seinen Mantel teilte, war er noch nicht mal getauft. Und er wusste auch von der Lehre der Kirche wenig, und das Glaubensbekenntnis konnte er sicherlich nicht auswendig sprechen. Aber er hatte das Wichtigste: Er sah in dem Bettler seinen Bruder und erkannte, dass sein Heil und sein Glück mit dem Glück dieses Bettlers zusammenhing. Er erbarmte sich und teilte seinen Mantel.
Ihr Lieben!
An dieser Geschichte können uns viele Lichter aufgehen. Zunächst: Habt keine Angst vorm Teilen. Du sollst ja selbst genug haben. Von dem, was du übrig hast, sollst du abgeben. Aber ich weiß, da fängt es schon an. Was haben wir denn übrig? Ein Rentner mit einer kleinen Rente kann hundert Mark übrig haben. Und ein Millionär kann unter Umständen nicht hundert Mark übrig haben. Es kommt nämlich auf die Blickrichtung an. Wenn man nur auf sich selbst schaut, dann merkt natürlich jeder, ob er viel oder wenig hat. Ich habe nichts über, ich habe nichts abzugeben! Wenn du auf die schaust, die mehr haben als du, dann kommst du dir arm vor, dann hast du erst recht nichts übrig zum Abgeben.
Aber der Martin schaut nicht auf sich und nicht auf die, die mehr haben, sondern er schaut auf den armen Bettler. Würde er auf sich selbst schauen, dann würde er sagen: Ich habe nur einen Mantel. Täte er das, dann würde er nichts abgeben. Und Martin schaut auch nicht auf die, die zwei Mäntel haben. Täte er das, dann würde er sagen: Sollen erst mal die, die zwei Mäntel haben, einen Mantel abgeben, ehe ich meinen Mantel teile. Martin schaut auf den Bettler, der jetzt vor ihm auf der Straße liegt. Und gegenüber diesem armen Bettler ist er einer, der etwas hat. Er teilt seinen Mantel, damit der andere leben kann.
Martin - wie auch der barmherzige Samariter - hat nicht jeden Morgen gedacht: Vielleicht bekomme ich heute eine Chance, etwas Gutes zu tun. Er hat nicht darauf gelauert, sondern er tat die Barmherzigkeit im rechten Augenblick, als dieser andere Mensch sie brauchte. Und in diesem Augenblick begegnete ihm Christus und verwandelte sein Leben.
Merkt ihr? Martin hätte auch sagen können: Was hilft’s schon, wenn ich diesem armen Bettler meinen halben Mantel gebe? Es gibt ja so viele Menschen in Not.
Man hätte auch sagen können: Was hilft der kleine Basar in Deutsch Evern mit diesen paar Mark den Kindern in Cajamarca, wo es so viele Kinder in Peru und sonst in der Welt gibt, die Not leiden?
Solches Gerede klingt ganz gescheit, aber meistens ist es nur ein Versuch, die Barmherzigkeit zu vereiteln.
Der Martin redet so nicht. Er sieht und handelt und tut, was ihm möglich ist. Der Martin jammert nicht und sagt nicht: Ich kann ja doch nicht viel tun!
Der Martin ist auch nicht so größenwahnsinnig und sagt: Ich habe jetzt die Not der Welt gewendet, indem ich meinen Mantel teilte!
Der Martin sieht und hat Erbarmen und tut, was ansteht. Und das bringt ihn im Weltgericht auf die Seite der Gerechten.
Merkt ihr? Aus diesem Zusammenhang kann ich nicht predigen: Teilt, Leute, teilt, dann kommt ihr in den Himmel. So steht das nicht da. Sondern wir können nur gemeinsam beten, dass Gott unsere Herzen weit machen möchte, dass ER mit seiner Liebe sich über unsere Ängstlichkeit und Halbherzigkeit erbarmt, damit wir neue Menschen werden. Und dann kommt das Teilen aus unseren Herzen unmittelbar heraus wie von selbst. AMEN!
Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu - Amen!