Predigt 532 zum 1. Advent

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Predigt vom 01.12.1985 - Pastor Schnabel - 1. Advent - Röm. 13, 8 - 12

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN!

Liebe Gemeinde!

Heute beginnt das neue Kirchenjahr, und damit beginnt auch eine neue Reihe von Predigttexten.

Im letzten Kirchenjahr - vom 1. Advent bis zum letzten Sonntag - war das Evangelium der Predigttext. Im kommenden Kirchenjahr - also ab heute, wird die Epistellesung der Predigttext sein. Und danach kommt ein Alttestamentlicher Predigttext. Und so geht das immer sechs Jahre hindurch, bis wieder das Evangelium als Predigttext an der Reihe ist.

Heute hören wir den Predigttext aus dem Brief des Paulus an die Römer im 13. Kapitel:

"Seid niemand etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: » Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammen gefasst: » Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der "Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts."

Gott segne an uns dieses Wort!

Liebe Gemeinde!

Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes, nicht der Gerechtigkeit. Wer den anderen lieb hat, der hat das Gesetz erfüllt.

Es geht um’s Lieben, nicht um’s Rechthaben. Gott wird uns am Ende unseres Lebens zuerst fragen, ob wir geliebt haben. Erst dann wird er uns vielleicht fragen, ob wir öfter Recht hatten.

Jesus hat die Zehn Gebote, damit ist ja das Gesetz gemeint, bestätigt und gesagt: Über diesen Zehn Geboten steht: "Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst."

Nun weiß ich, dass das Wort "Liebe" problematisch ist. Wenn wir das Wort "Liebe" hören, denken wir allzu leicht an die Turteltäubchen oder an Verliebtheit, oder an ein ungeschütztes Gefühl, das wir Liebe nennen, und das man sich bestenfalls im privaten Freiraum leisten kann.

Jesus steht dieser Beschränkung von dem, was Liebe ist, entgegen. Jesus stellt die Liebe ganz anders dar, nämlich als die Macht, die die Welt retten kann. Jesus hat wie kein anderer der Liebe vertraut, und er ist nie davon abgewichen. Den Versuchungen, die Welt doch mit Gewalt und Rechthaberei zu retten, hat er widerstanden. In der Überzeugung, dass die Liebe allein das Böse besiegen kann ist unser Herr Jesus Christus am Kreuz gestorben. Und dass Gott ihn auferweckt hat, das bedeutet nun ganz klar in diesem Zusammenhang, dass Gott in der Auferstehung Jesu bestätigt: Dieser Christus ist es, der den Weg der Liebe geht, in dem er alle Weisheit und Erkenntnis begründet.

An SEINEM Wesen, an SEINER Liebe wird die Welt heil.

Ihr merkt schon, das Wort "Liebe" hat hier einen viel festeren Klang. Hier ist nicht die Liebe gemeint aus der Operette "Dein ist mein ganzes Herz." Sondern hier ist die Liebe gemeint, die sich in nüchternen Geschichten erweist. Liebe ist eine Grundhaltung.

Die Liebe schafft eine grundsätzliche Übereinstimmung unter uns Menschen. Weil das Wort "Liebe" so missbraucht ist, reden wir oft auch vom Grundkonsens. Die Liebe ist sicherlich die einzige Kraft, die diesen Grundkonsens hervorbringen kann. Das heißt: Die Liebe schafft einen Grund, etwas, aus dem alle Menschen leben können, auf das sich alle Menschen beziehen können, unabhängig davon, ob sie sich sympathisch sind oder nicht. Wir dürfen nämlich Liebe nicht mir Sympathie verwechseln. Wir sind zur Liebe aufgefordert gegenüber Menschen, die uns gar nicht sympathisch sind.

Dieser Grundkonsens aus Liebe ist ein Grund, der unabhängig davon ist, ob wir einen Menschen oder eine Menschengruppe sympathisch finden oder nicht; unabhängig davon, ob ein Mensch rechts oder links steht, ob er schwarz oder weiß ist, ob er zu diesem oder jenem Wirtschaftssystem neigt.

Liebe ist der gemeinsame Grund und garantiert die unantastbare Menschenwürde selbst noch für den Bösewicht, der in’s Gefängnis muss, damit er nicht noch mehr Schaden anrichtet; auch er muss auf diesem Grund bleiben.

Liebe schafft unter uns das Bewusstsein, dass wir Menschen zusammengehören, das Bewusstsein, dass mein Glück mit dem Glück aller anderen Menschen zusammenhängt; die Erkenntnis, dass ich meine eigene Würde verliere, wenn ich andere verletze, die Erkenntnis, dass die Lüge und der Diebstahl, womit ich den anderen verletze, mich selbst klein und kaputt mache.

Umgekehrt wirkt das Gute, das du gibst und teilst auf dich zurück als Gutes. Und das Böse ebenso.

Durch Geben und Teilen wirst du reich. Dein Leben steht in einem großen Zusammenhang. Und deine Liebe ist die Verbindung zu diesem Zusammenhang, zu dem Grundkonsens, den Christus in die Welt gebracht hat.

Die Rechthaberei erpresst, die Liebe nicht. Die Rechthaberei spricht so: Wenn du nicht dieses oder jenes tust, oder wenn ihr nicht dieses oder jenes tut, dann füge ich dir Schmerzen zu, dann dreh ich dir den Hahn zu, dann geh ich vor”s Gericht.

Es ist typisch für unsere Gesellschaft geworden, dass wenig geredet und ausgehandelt wird, dass oft die Gerichte bemüht werden; auch unter Nachbarn. Das ist schlimm. Wo so rechthaberisch geredet und gelebt wird, da ist kein Grundkonsens mehr da, da ist das Leben kaputt, da kämpft jeder für sich - auf seinem eigenen Terrain. Und da entsteht auch eine Gier und eine Sucht nach Glück. Aber dieses Glück wird immer erkauft durch das Unglück des anderen. Der eigene Vorteil hängt immer mit dem Nachteil des anderen zusammen. Da wird das Gericht angerufen. Da steht das Rechthaben dem Leben entgegen.

Darum hat Jesus gesagt: Leute, das Gesetz ist für die Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz. Moral ohne Liebe wird zum Moralismus, zur Rechthaberei, und das endet im Terrorismus.

Die Bibel lehrt uns immer wieder, dass unser eigenes Leben keine Privatsache ist.

Der größte Irrtum unserer Zeit besteht darin, dass man meint, jeder Christ könne so leben wie er will. Unser Leben ist nicht unsere Privatsache, unser Leben ist nur in Zusammenhang mit den anderen Menschen und mit Gott zu begreifen.

Du bist Gott verpflichtet. Gott schafft in Christus einen Grundkonsens unter uns, der gilt. Und das gilt im Staat, in der Nachbarschaft, in der Familie gleichermaßen.

Um uns herum leuchten ja viele Signale auf die zeigen, dass der Grundkonsens bröckelt und fehlt.

Dieses Wort "Grundkonsens" ist noch gar nicht so alt. Und es wird erst in letzter Zeit besonders beklagt.

Viel Einsamkeit unter Menschen kommt daher, dass kein Grundkonsens da ist. Denn wo der Grundkonsens nicht da ist, dass ich dem anderen eine unantastbare Würde zugestehe, dass der andere einen Wert hat, unabhängig davon, ob ich ihm den zugestehe oder nicht, wo dieser Grundkonsens fehlt, da werden Menschen mäkelig. Da passt dieser Freund nicht mehr und jener nicht mehr. Da kann man sich auch nicht mehr streiten, weil jeder Streit gleich feindselig wird und zur Entzweiung führt.

Menschen, die sich auf einem gemeinsamen Grundkonsens befinden, die können sich streiten, dass die Fetzen fliegen, aber sie bleiben auf dem gleichen Teppich.

Menschen werden einsam, weil ihnen die anderen nicht genügen. Natürlich entspricht kein Mensch den Erwartungen der anderen ganz. Das steigert sich dann in das Gefühlt: Ich bin zu gut für diese Welt, oder in die Minderwertigkeit: ich bin zu schlecht für diese Welt, statt sich zu sagen: Ich bin da, der Grund, auf den ich mich gründe, ist die Liebe Gottes, das kann mir keiner zu- oder absprechen außer Gott.

Nun gibt es da noch eine Gefahr: Weil man diesen Grundkonsens nicht so richtig fassen kann, denken törichte Menschen, man könne es damit halten wie man will. Aber sie erkennen nicht, dass man damit die Würde wegwirft, die Gott uns gab. Wer sich nur an das juristisch Festmachbare hält, der hat bald eine Sklavenseele, die das Böse nur dann nicht mehr tut, wenn man Angst hat, erwischt zu werden.

Nein, ihr Lieben, gerade um uns daraus zu befreien, ist Christus in die Welt gekommen. Er hat einen neuen Konsens unter den Menschen geschaffen, der sich auf Liebe gründet. Und dieser Konsens gilt für alle, die sich Christus zugehörig fühlen und sich dazu bekennen. Darin sind wir Gott verpflichtet. Und jemand, dem das Wort Gott nicht so über die Lippen kommt, der mag meinetwegen sagen: Der Grund allen Seins, oder: Die Wahrheit, oder: Das Ganze. Aber das Wort Gott hat doch die größte sprachliche Übereinkunft. Und zu Gott kann man Du sagen, kann man beten.

Aus dem Grundkonsens, den Christus geschaffen hat, wächst gemeinsames, gesegnetes Leben. Da kann es hoch hergehen, da ist die Welt keineswegs heil. Aber da kommt man überhaupt erst mal aus der Verkrustung heraus, da kommt man überhaupt erst mal an das heran, was unsere Herzen bewegt. Vorher spielt sich da überhaupt nichts ab, nur Krieg und Feindseligkeit. Auf diesem gemeinsamen Grund können wir handeln, streiten und arbeiten, beten, lachen und weinen, bauen und einreißen, auf die Nase fallen und aufstehen, trauern und feiern. Da werden wir schuldig aneinander und da vergeben wir einander. Da kann es viel Kampf, viel Streit und Ärger geben, aber wir bleiben auf dem gemeinsamen Grundkonsens SEINER Liebe. Ohne diesen Grundkonsens wird der kleinste Streit zum giftigen Krieg, der darauf abzielt, den anderen zu vernichten. Ohne Gott fallen wir auseinander und bereiten uns gemeinsam eine Hölle.

Ein Letztes noch: Die Bibel spricht am Schluss unseres Predigttextes von den "Waffen des Lichtes". Damit sind Waffen gemeint die selbst nicht töten, aber die den Gegner entwaffnen. Waffen des Lichtes sind z.B. Ehrlichkeit. Ehrlichkeit entwaffnet, Liebe entwaffnet. Du kannst einen feindseligen Menschen damit entwaffnen, dass du ihn an seiner Ehre, bei seiner Würde packst als Gottes Kind. Wenn du ganz und gar davon ausgehst, dass der andere von Gott die gleiche Würde bekommen hat wie du selbst, dann kannst du einen feindseligen Menschen entwaffnen. Die Waffen des Lichts stehen dir zur Verfügung, wenn du allein diesem Grundkonsens vertraust, den Gott uns in Christus gegeben hat.

Lasst mich zum Schluss noch eine Geschichte erzählen.

In dem Schauspiel "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua" von Friedrich Schiller wird von zwei politisch verfeindeten Männern erzählt.

Da ist auf der einen Seite Fiesco, ein junger Graf. Und der will Andreas Doria, den alten Dogen, das Staatsoberhaupt von Genua, stürzen. Die Sache spielt im 16. Jahrhundert. Fiesco, der den Aufstand plant, hat dreieinhalbtausend Soldaten - getarnt - in der Stadt zusammengezogen. Andreas Doria soll in der kommenden Nacht in seinem Palast ermordet werden. Für gewöhnlich hat jedes Staatsoberhaupt viele Leibwachen in seinem Haus wie eine kleine Truppe.

Andreas Doria, dieser alte Edelmann, erfährt durch einen Verräter, (Mohr) dass er in der Nacht ermordet werden soll. Und er schickt durch einen Boten einen Brief an Fiesco, der ihn umbringen lassen will. In diesem Brief steht: "Ich werde heute Nacht ohne Leibwache schlafen."

Der alte Doria entwaffnet mit diesen Worten den Fiesco und seine Soldaten. Das sind die Waffen des Lichts. Der alte Doria vertraut darauf, dass es sogar zwischen politischen Todfeinden einen Grundkonsens gibt, dass man einen schlafenden Mann ohne Verteidigung nicht umbringen kann.

Fiesco ist wütend, er liest immer wieder diese Zeilen. Damit hat er nicht gerechnet. Aber er kann nichts tun, weil er auch seinem Todfeind gegenüber an diesen Grundkonsens der Ehre gebunden ist. Wir würden es heute Fährnis nennen. Schiller lässt den Fiesco sagen: "Der alte schwächliche Mann schlägt mit vier Zeilen dreieinhalbtausend Mann." (4. Aufzug, 9. Auftritt)

Ich weiß, du wendest vielleicht ein, dass jeder von uns Menschen hat, die ihm auf die Nerven gehen, die ihm feindlich zu sein scheinen. Vielleicht wendest du ein: Wenn der andere aber keine Ehre hat? Wenn er über diesen Grundkonsens der Liebe spottet? Wenn es für ihn keinen Grundkonsens mehr gibt?

Christus sagt uns sinngemäß: Das Risiko musst du eingehen, vorbehaltlos, und du wirst Wunder erleben. Jesus ist das Risiko eingegangen mit uns Menschen. Jesus wurde umgebracht am Kreuz. Und selbst das hat er mit Liebe überwunden. Und das bedeutet: Wir können uns noch so selbstherrlich und noch so kritisch und gleichgültig stellen, SEINE Liebe ist die große Waffe des Lichts. Und wenn es eine Hoffnung für uns gibt, dann ist es die Hoffnung, dass diese Waffe uns selbst überwindet. ER hat das Böse in uns mit Liebe überwunden. Und Christus lässt sich auch durch unsere Bosheiten nicht beirren.

ER, der sich unserer Herzen bemächtigen will, ist uns näher, als wir denken. ER hat mit seiner Liebe den Grund gelegt, auf dem wir leben.

ER ist der Grund für die, die’s glauben und für die, die’s nicht glauben.

ER ist der Grund, und wir sollen diesen Grund ernst nehmen, dann werden wir Wunder erleben. Dann werden wir auch die Macht der Liebe erleben, die sich in nüchternen Geschichten als mächtig erweist. AMEN!

Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu - Amen!