Predigt 538

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Predigt vom 19.01.1986 - Pastor Wolfgang Ritter - Röm. 12, 1-3

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!

Wir hören als Predigttext, was steht beim Brief an die Römer im 12. Kapitel. Es heißt dort:

"Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat" - AMEN!

Liebe Gemeinde!

Wir wollen diesen Predigttext nach Art einer Bibelstunde besprechen; Satz für Satz und Wort für Wort.

Paulus schreibt: Ich ermahne euch, Brüder, kraft der Barmherzigkeit Gottes. Dieser erste Satz, das ist so etwas wie eine Überschrift über dieses ganze 12. Kapitel des Römerbriefes.

Nun denke ich, dass auch diejenigen unter uns, die sich an dieser Sprache nicht so sehr stören, weil sie das noch so von früher gewohnt sind, oder weil sie da nicht so viel bei fänden, dennoch auch etwas ungute Empfindungen haben, wenn sie ermahnt werden. Man lässt sich in unserer Zeit nicht mehr gerne ermahnen; man lässt sich schon gar nicht gerne "abkanzeln", wie dieses Wort für uns doch im umgangssprachlichen Gebrauch klingt.

Ich meine, dass die Menschen zur Zeit des Paulus das nicht ganz so verstanden haben. Und ich denke, der christliche Dichter Walter Zenetti hat ganz gut ausgedrückt, wie man das in unserer heutigen Sprache verstehen kann, was Paulus F er will. Er hat das so gesagt: "Eine Gewissensfrage: Sind sie Christ? Wenn ja, warum nicht!?"

Ich denke, dieses meint auch der Apostel, wenn er ermahnt.

Ermahnungen, das sind die Proben auf’s Exempel des Christentums im Alltag. Paulus fragt: Seid ihr wirklich Christen? Auch im Alltag, nicht nur am Sonntagsvormittag oder in anderen feierlichen Augenblicken? Diese Frage, die richtet er an uns, nicht, weil er ein moralischer Mensch ist - etwa wie der Volksmund das sagt; ein Moralapostel - sondern er tut dies kraft der "Barmherzigkeit Gottes". Kraft der Barmherzigkeit Gottes, die er erfahren und erkannt hat, und kraft der Barmherzigkeit Gottes, an der alle Christen durch die Taufe Anteil haben.

Er fährt dann fort: "Bringt euer leibliches Leben Gott zu einem lebendigen, heiligen, ihm wohlgefälligen Opfer dar; das soll euer vernünftige Gottesdienst sein".

Ich denke, dieser Satz ist nicht schwierig, weil er eine abstrakte Sprache spricht, die Schwierigkeit liegt in diesem Bild, das Paulus hier gebraucht. Er gebraucht ja immer auch bei allen abstrakten Begriffen, die wir vorhin auch in der Predigt von Ch. Schnabel wieder schön anschaulich vorgeführt bekommen haben, Bilder.

Nur die Rede dieses Bildes vom vernünftigen Gottesdienst, ist uns als Bild fremd. Sie stammt aus der Welt des Paulus vor 2000 Jahren. Und ich denke, es ist nötig, dass man das etwas erläutert. Ich will es versuchen und wohl aufpassen, dass es nicht zu lange dauert.

Es geht um das Darbringen des Opfers. Opfern, das Darbringen von Opfergaben, spielte in der Umwelt des Paulus eine geradezu Daseins-bestimmende Rolle. Wir wissen das, es war ja bei den Juden zunächst einmal der Tempel in Jerusalem, an dem täglich Rauchopfer dargebracht wurden. Und bei den großen jüdischen Festen - z.B. uns als Christen ist ja besonders das Passafest bekannt - kamen dann Pilgerströme zu diesem zentralen Heiligtum nach Jerusalem, und brachten ihr Opfer dar. Und um den Tempel herum blühte dann Handel und Wandel.

Bisher haben wir alle noch eine Anschauung von dem, was da so sein mag, von der Geschichte in den Evangelien, von der Vertreibung der Händler und Wechsler durch Jesus. Das war doch ja auch ein zentraler Handels- und Wirtschaftsumschlagplatz; der Tempel, diese Stätte des Opferns.

Für das Imperium Romanum gewann dann zunehmend der Kaiserkult an Bedeutung. Der römische Kaiser wurde als Gottkönig verehrt. Und damit wurde das Opfern religiöse Handlung und politische Demonstration in Einem. Die einzelnen , vom Hof unterworfenen, Völkerschaften konnten zwar ihre Religionen weiter halten, mussten aber als Zeichen ihrer Unterwerfung dem römischen Kaiser Opfer bringen. Einem Teil mag das für sich sprechen. Schon zur Zeit des Paulus musste im Tempel des heiligen Gottes, im Tempel von Jerusalem, täglich ein Opfer für den Kaiser in Rom mit dargebracht werden; das war die Bedingung der Besatzungsmacht. Ansonsten konnten die Juden ihre Religion weiter ausüben.

Darbringung von Opfergaben zur Verehrung von Göttern und Halbgöttern gehörte also zur bestimmenden Lebenspraxis aller Anwohner am Mittelmeer. Und das Opfer auf dem Altar ist Ausdruck der religiösen Verehrung und des Versuches der Beeinflussung der Götter schlechthin. Und dem gegenüber nun stellt Paulus die Forderung, dass das ganze Leben des Christen, sein lebenspraktisches Verhalten, der eigentliche Opfergang sein soll, der vernünftige, der dem Sinn des Christentums entsprechende Gottesdienst. Das will sagen; Weil die Christen Gottes Barmherzigkeit erfahren haben, haben sie Dankopfer zu bringen, indem sie sich selbst leibhaftig in ihrem ganzen Lebendigsein, mit all ihrer Kraft und ihrer ganzen Existenz zu dem Willen Gottes, wie er in Christus offenbar ist, einsetzen.

Mir scheint, dass das - wie ich es ausdrücken will - ganz gut aufgenommen ist in einer Legende von den Philippinen. Man erzählt sich dort, dass das eine Zeit gab, wo der Himmel so tief hing, dass er den Menschen zu erdrücken drohte. Und so opferten die Bewohner der Philippinen ihre besten Hähne und Ziegen, um die Mächte versöhnlich zu stimmen. Aber der Himmel wich nicht zurück. Da die Menschen unter dies..n lastenden Himmel aber nicht einmal ihre wichtigsten Arbeiten, nämlich das Reispflanzen, verrichten konnten, drohten sie alle zu verhungern. Und in ihrer Verzweiflung waren sie sogar bereit, ihre Kinder als Opfer darzubringen. Und da stand ein junger Mann auf und sagte ein einziges Wort: ICH! Und siehe, der Himmel wich zurück.

Ich denke, diese Legende ist christlich eingefärbt. Dieses "ICH" ist für uns alle von Christus am Kreuz gesprochen worden. Nicht mehr Opfer bringen, wie es der jüdischen und der allgemeinen religiösen Tradition entsprach, sondern Opfer sein, das ist das Christliche. Sich selbst anbieten, seine eigene unverwechselbare Person einbringen als lebendigen Gottesdienst, das ist das würdige Opfer. Und das ist wohl das Neue, was durch das Christentum in die Welt gekommen ist.

Ein Teil ist uns das ja selbstverständlich, dass man das, was man tut, durch die eigene Person decken muss. Der Christ ist für diese Welt persönlich verantwortlich. Leistungen, auch religiöse Werke, zählen nicht. Und er kann auch nichts durch einen Priester für sich vollbringen lassen; er ist selbst Priester, wie das Luther immer ausgedrückt hat. Er hat im täglichen Lebensvollzug zu verantworten, ob das, was er tut, Gottes Willen entspricht.

Nun - diese Erkenntnis erfordert Askese, Weltentsagung, mitten im Leben der Welt. Und deswegen fährt Paulus fort: Macht euch nicht dieser Welt gleich, sondern wandelt euch um; lasst eure Sinne neu werden, dass ihr beurteilen könnt, was Gottes Wille ist; das Gute, das Gott Wohlgefällige, das Vollkommene. Der Christ ist auf sich gestellt. Er muss mit seiner Person entscheiden, was und wie er dem Willen Gottes entsprechen kann. Und das ist schwer. Das ist oft zu schwer, weil wir an das Irdische gebunden sind.

Sören Kiergegaard erzählt eine Parabel: "Es war einmal eine Wildgans. Zur Herbstzeit, gegen den Wegzug hin, wurde sie auf einige zahme Gänse aufmerksam. Sie fasste Zuneigung zu ihnen. Es deuchte sie jammerschade, von ihnen wegzufliegen. Sie hoffte, sie für ihr Leben als Wildgans gewinnen zu können, sodass sie sich entschlössen, mit zu folgen, wenn der Zug fortflöge. Zu dem Zweck ließ sie sich auf jede Weise mit ihnen ein. Versuchte, sie zu locken, dass sie ein wenig höher stiegen und dann noch ein wenig höher im Flug, damit sie dann womöglich im Zug mit folgen könnten; erlöst von diesem elenden, mittelmäßigen Leben, auf Erden zu watscheln als ehrbare, zahme Gänse. Aber die Wildgans hatte sich leider zu sehr mit den zahmen Gänsen eingelassen. Sie hatten allmählich Macht über sie bekommen, sodass sie, ihre Worte, etwas für sie bedeuten konnten. Und das Ende vom Liede war, dass die Wildgans eine zahme Gans wurde.

Das Gesetz ist: Eine zahme Gans wird niemals eine Wildgans. Hingegen kann wohl eine Wildgans zur zahmen Gans werden. Deshalb hüte dich!

Christlich ist es nicht ebenso. Gewiss ist der wahre Christ, über den der Geist herrscht, vom gewöhnlichen Menschen verschieden, wie die Wildgans von der zahmen Gans. Aber das Christentum lehrt ja gerade, wozu ein Mensch im Leben werden kann. Hier ist also Hoffnung, dass eine zahme Gans zu einer Wildgans werden kann. Deshalb bleibe bei ihnen, diesen zahmen Gänsen; bleibe bei ihnen, nur mit dem beschäftigt, sie für die Verwandlung gewinnen zu wollen. Aber um Gott im Himmel willen, achte auf eines; sobald du merkst, dass die zahmen Gänse anfangen, Macht über dich zu bekommen, dann fort, auf und davon mit dem Zug, auf dass es nicht damit ende, dass du wie eine zahme Gans wirst, glücklich gemacht in der Jämmerlichkeit."

Im Lichte dieser Beispielgeschichte könnte man formulieren: Der Christ hat sich freizumachen von der Jämmerlichkeit eines zahmen Haustiers. Er darf stets die Hoffnung haben, dass eine zahme Gans zu einer Wildgans werden kann; dass stets noch etwas zu machen ist in dieser Welt; dass stets noch etwas zu ändern ist im Sinne der Liebe, die Christus verkündigt hat, und für die er gelitten hat und am Kreuz gestorben ist.

Liebe Gemeinde!

Mir scheint, dass Paulus selbst gemerkt hat, dass diese Worte natürlich auch wie ‚er leicht misszuverstehen sind, und deswegen holt er uns gleichsam sofort zur Erde zurück: "So sage ich kraft der Gnade, die Gott mir gegeben hat, jedem einzelnen von euch; sinnt nicht hoch hinauf für das, worauf zu sinnen Not ist. Sinnt vielmehr darauf, besonnen zu sein, jeder nach dem Glaubensmaß, das Gott ihm zugeteilt hat."

Das heißt bei aller Hoffnungskraft und bei aller Dynamik, die wir aus der Hoffnung des Glaubens an die Barmherzigkeit Gottes empfangen, haben wir auf unserem Platz zu bleiben.

Alles, was wir tun können in dieser Welt, kann nur geschehen unter dem Vorzeichen, dass Gott vor allem, in allem, und in der Zukunft da ist. Er lässt uns gewähren, aber wir kennen nicht seinen Ratschluss. Wir kennen nicht den Lauf der Dinge, und wir kennen nicht unsere Bestimmung und das Ziel und den Zweck der Welt.

Wir alle sind nur Diener; jeder an seiner Stelle, an seinem Ort. Dazu passt ja auch dieses Bild von dem irdenen Gefäß, in dem wir den

Schatz haben. Paulus schließt seine Ermahnung mit dem bekannten Bild vom Leib.

"Denn wie wir an einem Leibe viele Glieder haben, wie die vielen Glieder aber nicht dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele aber in Christus ein Leib, aber als einzelne sind wir füreinander Glieder und haben verschiedene Gaben, jeder nach der Gnade, die uns gegeben"

Der gnädige Geber unserer Gaben hat uns in Jesus Christus sagen lassen und gezeigt, dass unsere Gaben stets Aufgaben sind.

Christ sein, das heißt; sich im Geist Christi im Rahmen seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten für diese Welt einzusetzen.

Das ist unser aller Amt; das ist unser vernünftiger Gottesdienst. AMEN!