Predigt vom 22.07.1986 - Röm. 14, 10-13
Der Predigttext für diesen 4. Sonntag nach Trinitatis steht im Brief des Paulus an die Römer im 14. Kapitel.
"Was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?"
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: "So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen."
So wird nun jeder für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Gott segne an uns dieses Wort.
Liebe Gemeinde! Dass man nicht richten soll, das ist sicherlich Allgemeingut. Aber wir schaffen es eben so Schwer. Und wenn man sagt:
Du sollst, du musst! Dann ist das noch kein großer Anreiz zur Besserung. Und manchmal frage ich mich auch, ob das ein Mensch kann, der sich selbst behaupten muss. Der muss doch richten, und der muss im Grunde auch verachten. Der kann sich’s gar nicht leisten, zu vergeben und geduldig zu sein. Ein Mensch allein mit sich selbst, der ist dazu verdammt, 2zu richten, den Abstand zu den anderen herzustellen, um seinen eigenen Wert zu schaffen. Solange ein Mensch allein mit sich selbst ist, ist es fast unbarmherzig, ihm immer zu sagen: Du sollst darauf verzichten! Es muss eigentlich anders herum gehen. Es muss ein Mensch erst mal erfahren haben, wie gut und befreiend das ist, wenn man nicht mehr richten muss, wenn man sich vorfindet als Gottes geliebtes Kind, wenn man nichts mehr beweisen muss.
Dann erübrigt sich nämlich das Richten und Abstufen und Abstandherstellen zu den anderen ganz von selbst. Dann hat das gar keinen Grund mehr.
Dann kommen Vergebung und Geduld wie von selbst. Vergebung und Verzicht aufs Richten sind so notwendig wie Essen und Trinken.
Wer andere verachtet, kann sich selbst nicht lieben. Wer anderen nicht vergeben kann, der findet selbst keine Vergebung.
Wer sich nicht trösten lassen kann und immer sagt: "Ich brauche keinen, ich bin selbst der Größte", der kann auch keinen anderen trösten.
Christus hat uns den Weg zu einem guten Leben in dieser Freiheit erschlossen. Wir sollen das Richten Gott überlassen, und dann wird es gut. Nur in dieser Gewissheit, nur in diesem Vertrauen darauf, dass Gott wirklich der Herr und Richter ist, werden wir überhaupt in die Lage versetzt, zu vergeben und auf das Richten zu verzichten.
Ohne dem sind wir auf ewig verdammt zu diesem teuflischen Kreislauf des Richtens und des Verachtens.
Die Bibel sagt im Predigttext: Gott ist Richter und nicht ihr. Wir sollen nicht tun, was Gottes Sache ist. Wenn Menschen nämlich wie Gott sein wollen, und das tun sie, wenn sie die Richter sein wollen darüber, ob ein anderes Menschenleben wertvoll oder wertlos ist, dann haben wir die Hölle auf Erden, weil wir eben ohne Gott zum Richten und Verachten gezwungen sind.
Das ist dann wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau. Die will immer größer und besser sein als alle anderen. Die dreht durch. Am Ende will sie sein wie der liebe Gott, und da fällt sie in den Staub, damit ihr wieder klar wird, wer sie ist.
Wo Menschen aber Gott allein das Richten überlassen, da werden sie befreit, da werden sie sanftmütig und geduldig, da können sie einander vergeben, da ist schon ein Stück Himmel auf Erden unter den Menschen.
Da haben die Menschen, weil sie nicht mehr ständig ihren Sinn durch Verachten oder Richten schaffen müssen, da haben sie plötzlich die Herzen und Hände frei zu lieben und einander zu vergeben.
Jeder kluge Richter, der in einem Gerichtssaal Recht sprechen muss, der weiß, dass das irdische Recht nach dem Strafgesetzbuch nur eine grobe Ordnung darstellt, die sehr wichtig ist, die aber nur das äußere Leben regeln kann. Wir brauchen das Recht des Staates, um das äußere Leben zu ordnen. Und zugleich wissen wir auch, dass das Leben noch nicht gut geht, wenn sich Menschen lediglich so verhalten, dass sie nicht straffällig werden.
Das, was unserm täglichen Leben so viel Beklemmung und Ärger, Sorge und Jammer macht, das sind ja auch meistens nicht die Straftaten, die die Polizei verfolgen kann, sondern was uns so hart und kaputt macht untereinander, das ist das Richten und das Verachten. Das sind die Demütigungen, die Verleumdungen unter Kollegen, die böse Nachrede, die Zurücksetzungen, die Mogeleien, die wir aneinander täglich begehen und die nach dem äußeren Gesetz nicht strafbar sind, weil man sie nicht festmachen kann. Da gibt es feine Spielarten der Grausamkeit, die nicht justiziabel sind.
Wir möchten natürlich immer, dass die anderen vollkommen sind, aber selbst wollen wir unsere eigenen Mängel nicht bekämpfen. Wir möchten, dass die anderen streng bestraft werden, aber selbst wollen wir ungestraft sein. Es ärgert uns, wenn Sich andere alles erlauben dürfen, aber wir selbst ärgern uns, wenn man uns eine Bitte abschlägt. Andere sollen sich an die Ordnung halten, aber wir selbst wollen uns nicht binden lassen. Selten messen wir die anderen wie Schwestern und Brüder mit dem gleichen Maß, mit dem wir uns selbst messen. Immer wieder erhebt sich das Geschrei nach besseren Gesetzen und mehr Gerechtigkeit. Aber es sind wenige, die bei sich selbst anfangen und die an sich selbst arbeiten wollen. Und dabei ist gerade das der erste und wichtigste Schritt, dass du bei dir selbst anfängst und Gott gelten lässt, und-sott den Richter sein lässt.
Dieses neue Leben kannst du nur anfangen, und du kannst dich nur dann loslassen, wenn du dich in diesen Glauben fallen lässt.
Was du an dir und den anderen Menschen nicht ändern kannst, das trage geduldig, bis Gott es anders ordnet. Da sollst du zu Gott beten und dich in Geduld üben und dir immer wieder sagen lassen: "Gott richtet, nicht ich!"
Vor ihm beugen wir unsere Knie, und vor ihm müssen wir - ich und du - Rechenschaft ablegen.
Dich sollen deine eigenen Mängel und Vergehen mehr beschäftigen, als die Mängel und Vergehen der anderen. Hast du jemanden einmal oder zweimal ermahnt, dann streite dich nicht mehr mit ihm. Bete für ihn, den Bruder oder die Schwester, und vertraue darauf, dass Gottes Wille geschieht, dass sein Reich kommt, dass er der Richter ist.
Übe dich in Geduld und trage die Schwächen und Gebrechen der anderen Menschen, denn du änderst sie nicht damit, dass du ständig darauf hinweist, wie es um sie bestellt ist.
Du wirst selbst sanft, wenn du vor Gott erkennst, wie es um dich selbst bestellt ist. Dann merkst du, dass du den anderen oft überforderst.
Niemand von uns ist ohne Fehler und keiner ist ohne Last. Und darum sind wir zu einer Gemeinde bestimmt, dass wir einander ertragen und trösten und helfen und ermahnen und belehren. Davon wird es besser, nicht durch das Richten und Verachten. Nicht durch das ständige Abstufen, wo stehe ich denn nun, wo steht der? Ist er mehr oder weniger als ich?
Die Rechthaberei, das dauernde Gekränktsein und das Nachrechnen, die Rache und der Groll, und das Herrschenwollen, das macht unser Leben so sauer und so kaputt, weil wir unbewusst immer denken: Wenn$ nach meiner Nase ginge, dann wäre alles gut. Wenn die anderen nur hören wollten, dann wäre Frieden in der Welt.
Ich habe vor zwei Wochen ein Gespräch gehabt mit einem alten Menschen, der sich über die Schlechtigkeit der Welt beklagte und über die Bosheit der Menschen, und am Ende steigerte es sich darin, dass er Gott den Vorwurf machte, warum er so einen miesen Laden gemacht hat. Aber das ist alles Geschwätz, das bringt uns nicht weiter. In diesen Zweifel mögen wir manchmal fallen, aber es hilft uns nicht. Es hilft uns nur, wenn wir Gott gelten lassen und wenn wir das Heil von Christus erwarten, der selbst gehorsam war bis ans Kreuz.
Ich bin immer wieder fasziniert von den Geschichten von - mit - und über - Jesus. Wie dieser Jesus die Wahrheit ausspricht und nicht richtet. Jeder Mensch richtet sich selbst in seinem Verhalten zu Christus.
Christus steht da, und er sagt furchtlos die Wahrheit, und er lebt den Geist und die Liebe Gottes, und es ist klar, und Menschen finden Klarheit in seiner Nähe, und sie werden zuerst davon befreit, dass sie sich nicht mehr rechtfertigen müssen, dass sie Gott, Gott sein lassen.
Christus hat selbst gedient und hat aus Liebe zu uns auch Geduld mit uns gehabt, darum sagen wir: In ihm ist das Heil.
Wir werden ermahnt zum Lieben, zum Dienen, zum Geduldhaben. Ich weiß schon, was der alte Adam und die alte Eva in uns ruft, wenn sie von Geduld und Dienen und Demut und Vergebung hören. Das klingt uns sofort nach Schwäche. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir ständig geduldig vergeben. Die tanzen mir doch auf der Nase herum. Ich muss mich doch behaupten.
So sprechen wir aus unserer Schwäche heraus, aus unserem unerlösten Herzen. Aber so sprechen wir nur, solange wir schwach sind und die Macht der Liebe und die Kraft der Vergebung noch nicht erfahren haben. So sprechen wir ohne Gott.
Und bedenkt ein letztes; Geduld haben und vergeben, heißt keineswegs zu Sagen: Es ist nicht so schlimm - ich schaue nicht so genau hin - ist doch egal. Das ist ein Irrtum. Vergebung und Geduld beginnt gerade da, wo du sehr scharf und klar die Mängel und Fehler und die Schuld der anderen Menschen erkennst. Aber du bist befreit, das zu ertragen, weil du nicht mehr Richter sein musst. Und wo du nicht mehr Richter sein musst, da hast du Herz und Hände frei, zu helfen und beizustehen, und da wird Geduld und Vergebung eine starke Kraft, die neue Gemeinschaft stiftet und die dem anderen es auch ermöglicht, sich zu ändern, und die dich selbst ändert.
Stell dir vor, ein Mensch kennt dich genau. Ein Mensch kennt deine Mängel und deine Schuld. Er kennt dich so genau, dass du dich nicht mehr vor ihm verbergen kannst, und nun rechnest du damit - wie der Josef in Ägypten, der kennt die Schuld seiner Brüder genau, und die Brüder rechnen damit: Jetzt rächt er sich, jetzt bindet er den Sack zu, jetzt kühlt er sein Mütchen. Aber zur Überraschung verachtet er die Brüder nicht. Stell dir vor, ein Mensch kennt dich so genau und zu deiner Überraschung verachtet er dich nicht. Er kennt dich genau mit deiner Schuld, er bleibt trotzdem an deiner Seite und hat Geduld.
Weißt du wie gut das ist, wenn deine Schuld klar ist, und du dennoch nicht gerichtet wirst?
Wenn dir das widerfährt, dann hast du die große Chance in deinem Leben, dich zu ändern, weil dir vergeben ist. Dann kannst du alles zugeben, was du bis dahin krampfhaft unterdrückt hast, wo du immer mühsam zeitlebens den Deckel drauf gehalten hast, dass es nicht überkocht und dass es keiner sieht. Weil du geliebt wirst, so mangelhaft, wie du bist, darum kannst du ein neuer Mensch werden, der mit anderen Geduld hat.
Nun muss ich sagen, Gott sein Dank gibt es keinen Menschen, der alles von mir weiß. Es gibt auch keinen Menschen, der alles von dir weiß. Aber ich glaube, dass Christus alles weiß und dass er uns genau kennt.
Dass er unsere Mängel ganz klar sieht und auch unsere Schuld, die sichtbare und die verborgene, und dass er dennoch an unserer Seite bleibt. Und dass er sich kreuzigen lässt und noch im Tode für uns bittet, weil er an uns glaubt, weil er glaubt, dass es gut werden soll mit uns.
Wer sich ihm ergibt, der kann auch vergeben.
Und weil wir uns vor ihm nicht mehr rechtfertigen müssen, müssen wir uns auch vor den Menschen nicht mehr rechtfertigen. Und darin liegt unser Wert begründet, und das macht uns frei, neue Menschen zu werden, für die sich das Richten und Verachten einfach erübrigt.
Es gibt seitdem eigentlich nichts mehr zu richten und zu verachten.
Wir müssen nichts mehr beweisen.
Christus ist für uns gestorben so sehr hat er uns geliebt. Und so können wir leben und vergeben. AMEN!