Predigt vom 23.11.1986 - Pastor Schnabel - Ewigkeitssonntag - Offenbarung 21, 1-7
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen AMEN!
Liebe Gemeinde! In der Nicolaikirche in Lüneburg, rechts oben auf der Empore, sind kostbare Altardecken ausgestellt, die etwa 600 Jahre alt sind. Daneben, in einem Bachsteinpfeiler ist eine kleine Nische, und dort hinter Panzerglas ist eine kleine Umhängetasche aus dem 15. Jahrhundert zu sehen. Sie ist kunstvoll bestickt und zeigt im Halbrelief den gekreuzigten Christus.
In dieser Tasche trug in Lüneburg vor 500 Jahren der Pfarrer das Sakrament zu den Sterbenden. Heute ist es verbreitet, einem sterbenskranken Menschen auszureden, dass er dem Tode nahe ist. Man verheimlicht ihm seinen wahren Zustand, man stiehlt ihm seinen Tod. Viele Ärzte neigen dazu, dem Todkranken nicht zu sagen, wie es um ihn bestellt ist, dass es wahrscheinlich ans Sterben geht. Sie bevormunden die Menschen. Und vielleicht haben die Ärzte, die das tun, sogar recht. Denn wer zeitlebens den Tod verdrängt hat, der wird ja in seiner letzten Stunde fassungslos sein. Früher ließ man einen Menschen in seiner letzten Stunde nicht in der Unwissenheit allein. Nachbarn und Verwandte sammelten sich um sein Bett. Und sie sangen und beteten, und weinten. Es war nicht peinlich, zu weinen. Sie sprachen sich Gottes Wort zu, die Worte und Verheißungen von Himmel und vom ewigen Leben. Und wenn das Ende nahe war, wurde der Pfarrer gerufen, und der Sterbende konnte beichten und das Sakrament empfangen, Christi Leib und Blut in der Gestalt von Brot und Wein.
Das Sterben war damals auch nicht leicht, es war genauso Schwer wie heute. Die Schwelle des Todes war zu allen Zeiten schwer zu überschreiten. Denn man muss Abschied nehmen, und es gibt kein Zurück.
Damals hatte in unserem Land jeder von Christus gehört und lebte in den Bildern der Bibel. Er hatte eine Vorstellung von Himmel und von Hölle, von Gericht und vom ewigen Leben. Und die Altäre der alten Kirchen, die zeigen Bilder, die sich einprägen. Und wenn auch jemand zeitlebens schwach oder lässig im Glauben war, in seiner letzten Stunde konnte er beten, seine Seele ausstrecken nach den Bildern und den Liedern, die davon zeugten, dass es über den Tod hinaus Hoffnung gibt.
In unserer Kultur, wo Menschen zeitlebens den Tod verdrängen, da ist am Ende nichts, zu dem sie aufschauen können, wohin sie ihre leeren Hände ausstrecken können. Und im letzten Augenblick des Lebens kann man das Versäumte kaum nachholen. Ich weiß nicht, wie in unserem zunehmend heidnischen Land die jetzt jungen Leute später einmal getröstet und in Würde sterben können.
Moderne Menschen leben entweder in Todesangst, das ist die Ursache dafür, dass sie den Tod verdrängen und nichts davon hören wollen, und sie finden es schlimm genug, dass es überhaupt soetwas wie Beerdigungen gibt. Oder sie leben in dem, was man in der Psychologie die "unbewusste Todessehnsucht" nennt.
Vielleicht ist unser leichtfertiger Umgang mit Waffen und Rüstung auch ein Ausdruck der Todessehnsucht. Aber aus beidem, aus Todesangst und Todessehnsucht spricht die Unfähigkeit zum Leben. Denn zum Leben gehört etwas sehr Wichtiges, was wir verdrängen, und das ist die Fähigkeit, zu leiden. Leiden und Ohnmacht aus Gottes Hand anzunehmen, und den Tod nicht zu verdrängen, sondern ihn anzuschauen, das gehört zum Leben, und wer das verdrängt, der ist unfähig zum Leben.
Aber wie kann ein Mensch Leiden annehmen?
Ohne Gott müssen wir Menschen entweder den Tod und das Leiden verdrängen, indem wir wegschauen solange es irgend geht, und dann erschrecken wir, wenn der Tod dann doch plötzlich vor uns steht. Oder wir versuchen, im menschlichen Größenwahn, Leiden total abzuschaffen.
Wir sehen Leiden als etwas, was man nicht erdulden muss, sondern was unbedingt und auf jeden Fall abgeschafft werden muss. Wer mit diesem hohen Ziel antritt, der endet meistens in der Resignation.
Es gibt vieles Leiden, was wir abschaffen sollen und müssen und können, aber es gibt auch ein Leiden, das zum Leben gehört, und das erfahren werden muss. Wir können aber das Leiden im Leben ohne Gott nicht annehmen. Und wer ohne Gott lebt, der kann das Leiden nicht annehmen und der muss dann an sich selbst verzweifeln, vor dem Tod und vor dem Leid, was er nicht ändern kann. Zwischen beidem - Tod und Leidenverdrängen, und Tod und Leiden versuchen abzuschaffen - gibt es einen dritten Weg; das ist der Weg mit Gott, den Christus weist.
Christus vertraut auf Gott und lebt die Liebe Gottes, und nimmt das Leiden an, das sich auf seinem Weg ergibt. In Christus erkennen wir, dass Leiden ein Schmerz ist; ein Schmerz unterwegs.
Leiden ist schrecklich, aber Christus setzt es in das Licht der Vorläufigkeit. Es gibt etwas nach dem Leid, und das gibt uns die Kraft, das Leid anzunehmen und zu durchleben.
Wenn sie mal in einer ruhigen Stunde ihr Gesangbuch zur Hand nehmen, werden sie sehen, dass jedes Lied in unserem Gesangbuch zumindest in einer Strophe von Leid und Tod handelt. Und das Erstaunliche ist, dass gerade auch die fröhlichen Lieder, z.B. das schöne Sommerlied: "Geh aus mein Herz, und suche Freud, in dieser lieben Sommerszeit…" - dass es auch in diesem fröhlichen Liede dann in der letzten Strophe heißt: "Erwähle mich zum Paradies, und lass mich bis zur letzten Reis', an Leib und Seele grünen."
Da wird in aller Erdenlust der Blick auf den Tod nicht verstellt. Und vermutlich können wir die Freude und die Lust an der Schöpfung viel deutlicher wahrnehmen, wenn wir den Tod gerade nicht ausblenden.
Wir können das sehen im Barock: In einer Zeit der größten Lebenslust, da ist zugleich auch der Tod immer ein großes Thema in der Kunst.
Oder das schöne Lied, was wir bald singen werden: "Fröhlich soll mein Herze springen." Da heißt es im 12. Vers: "Mit dir will ich endlich schweben, voller Freud, ohne Leid, dort im andern Leben."
Die Lieder haben immer einen Ausblick auf den Tod und das, was danach kommt, und was das Leben zu etwas macht, das ein Durchgang ist, in dem wir unterwegs sind, in dem deutlich wird; wir sind noch nicht da, wir sind noch nicht zu Hause.
Alle unsere Lieder reden spätestens in der letzten Strophe vom Himmel und von den letzten Dingen. Und gerade dieser Ausblick, diese Horsalug über den Tod hinaus, beflügelt unser Leben jetzt und hier.
Es ist das Merkwürdige, dass das angenommene Leid und der nicht verdrängte Tod, die Lebenskraft mehr fördern, als das Verdrängen und das Nichthinschauen; das steigert die Angst.
Todesangst oder Todessehnsucht sind hilflose Ausweichmanöver, die das Leben verfinstern. Und gerade daraus kommt dann ein dummes, törichtes Leben. Wo Menschen sich gegenseitig zureden, dass wir alle noch ganz jung sind, auch wenn sie 60 oder 70 sind, weil sie sich irgend etwas vormachen, und ihre Zeitlichkeit nicht wahrnehmen wollen; da wird ein Mensch unwürdig und töricht.
Aus dieser Todesangst kommt auch dieser merkwürdige Wahn, so zu leben, als sei man ewig auf der Welt. Da wird geschafft und gerafft, und gesorgt, und Vorräte angehäuft. Und dann tun wir so, als seien wir ewig auf der Welt, und verpassen dabei den Augenblick des Lebens, in dem wir ja allein Freude und seliges Leben und Ewigkeit erfahren können; nur im Augenblick, nicht im Gestern und nicht im Morgen.
Zum seligen Leben gehört das Leiden, und ein fester Blick auf den Tod. Und diesem festen Blick auf den Tod, dem können wir nur standhalten, wenn wir uns auf Christus berufen, der diesen Weg uns vorausgegangen ist.
Wenn du einen sterbenskranken Menschen besuchst, dann hast du vielleicht gespürt, wie unsicher du wirst. Weil du spürst; hier ist ein Leiden, das kann ich nicht abschaffen. Und wenn du in dir auch spürst; ich will da eigentlich nicht hingehen, dann kannst du an dir selbst merken, dass die Ursache für diese Scheu darin liegt, dass du die Ohnmacht nicht ertragen willst. Diese Ohnmacht, die du spürst; da ist ein Mensch, der leidet, und ich kann das Leiden nicht abschaffen.
Wir modernen Menschen, wir sind ja groß im Machen, und wir messen ja alles am Nutzen. Darum neigen wir dazu, zu sagen: Was nützt es denn, wenn ich dahingehe, ich kann ja doch nichts ändern. Wir modernen Menschen sind große Macher, aber wir sind klein im Leiden. Das Machen ist gut. Aber alles Ding hat seine Zeit, auch das Machen hat seine Zeit. Aber das Leid hat auch seine Zeit, und das vergessen wir. Wo wir nichts machen können, da müssen wir uns unsere Ohnmacht eingestehen, und da müssen wir warten und gemeinsam leiden. Da müssen wir es ertragen, dass wir nichts bewerkstelligen können, dass wir nichts in die Wege leiten können. Sondern dass es unsere Aufgabe ist, das Leiden anzunehmen, und dass wir in diesem gemeinsam durchstandenem Leid einander trösten.
Wenn man nichts machen kann, da kann man immer noch singen und beten. Und das kann sehr viel sein.
Aber wir begeben uns ja meistens gar nicht erst in die ohnmächtige Situation des Leidens. Wir vermeiden sie, weil wir meinen, es würde nichts nützen, mit einem leidenden Menschen zusammenzusitzen, wenn man doch nicht helfen kann. Und wir meinen, wir wüssten vorher schon, was hilft oder was nicht hilft.
Und nun ist das Merkwürdige, wenn es dir einmal gelingt, zu sagen; ich gehe jetzt zu diesem Menschen, ich habe ihn gern, er ist todkrank, ich kann ihm nicht helfen. Wenn du dir das im Gebet ganz deutlich machst; ich weiß genau, ich bin ohnmächtig, ich kann ihm nicht helfen, und ich weiß auch gar nicht, wie ich ihm helfen soll. Wenn du dir das ganz klar vor Augen hältst, dann wirst du schon mit größerer Gelassenheit hingehen. Und dann begib dich hinein, und nimm dieses Leiden an! Wer das tut, der wird erfahren, was für ein Segen darauf ruht. Und dass da unaussprechliches geschieht, wo Menschen das Leiden annehmen und teilen. Wenn du einem Menschen beistehst, ohne dass du wüsstest, wie du seine Lage ändern kannst.
Du triffst einen Menschen auf der Straße, eine Frau, und weißt, dass ihr Mann gestorben ist. Und du weißt nicht, was du sagen sollst. Vielleicht weil du selbst Angst hast, dass dir das Gleiche widerfahren kann, geh ruhig auf sie zu. Und wenn du keine Worte hast, dann sage keine Worte, und dann ergreife ihre Hand und sage nichts, das ist manchmal besser.
Unsere Sprache ist so gut und so klar. "Einem Menschen beistehen", sagen wir. Einem Menschen beistehen, heißt; einfach erst mal bei ihm stehen und nicht weglaufen, und das Leid ertragen. Sein Leid mit ansehen und mit ihm ratlos sein, und hilflos sein, und notfalls eben schweigen, wenn du nichts zu sagen weißt. Durch dein bewusstes Beistehen änderst du mehr, als du denkst, denn der Andere ist nicht allein in seinem Leid. Und du erfährst etwas Großes, Tiefes, was ich auch in dieser Predigt nicht sagen kann, weil man das nur erfahren kann. Und wenn so zwei Menschen sich beistehen und der eine stirbt, und sie sind beieinander bis in die letzte Stunde hinein, dann kann das etwas sehr Großes sein. Und am Ende weiß man nicht, wer wen getröstet hat. Aber sie sind beide getröstet.
Jesus bringt das auf ein Wort: "Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden." Und das stimmt, das ist leibhaftig erfahrbar.
Selig sind, die Leid tragen, die es nicht wegwerfen, die es nicht vermeiden, sondern die es tragen. Die sollen getröstet werden.
Der Weg zur Seligkeit führt durch Leiden, das in diesem Leben anzunehmen ist.
Aber das ist eben nur möglich dem, der sein Leben begreift als Unterwegssein zu Gott.
Und das ist es, was Johannes in der Vision beschrieben hat, die wir im Predigttext heute gehört haben. Dieser Vers 4: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein…"
Und den Durstigen will Christus zu trinken geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Und wer überwindet, der soll alles erben.
Gottes Wort ist hier ganz realistisch; soweit ist es noch nicht.
Und eine Vision, das ist so, wie wenn plötzlich die Blende aufgeht, die Dunkelheit weggerissen ist, der Vorhang, der Schleier. Johannes sieht etwas, und dann geht der Verschluss wieder zu. Aber das, was da gesehen ist, das wirkt in die Dunkelheit hinein.
Wir sind unterwegs in dieser Welt.
Die Bibel sagt hier mit ihrem Wort ganz deutlich; Tränen werden geweint um Menschen, die wir liebhatten. Leid erfahren wir und wir können es nicht abschaffen.
Aber wir sind dazu da, einander beizustehen und es zu lindern und zu trösten. Und während wir das tun, ereignet sich Großes unter uns.
Geschrei und Schmerz dröhnt in unseren Ohren. Es sticht uns in die Augen, dass wir nicht hingucken wollen. Und es geht uns ans Herz, dass es uns schmerzt.
Wir erfahren unsere Ohnmacht und weichen trotzdem nicht aus.
Gott wird es neu machen und unsere Tränen abwischen. Das Leid ist nicht vergeblich, sagt Christus.
Das Leid ist Schmerz unterwegs.
"Noch manche Nacht wird fallen, auf Menschenleid und -schuld. Doch wandert nun mit allen, der Stern der Gotteshuld…"
Gott wird abwischen unsere Tränen, dahin sind wir unterwegs.
Glauben, heißt; daran festhalten, dass nicht aller Tage Abend ist, und auch die Trennung von denen, die wir liebhatten, nicht endgültig ist.
Dass Christus sagt, er will bei uns sein, bis an das Ende der Welt, darauf vertrauen wir. AMEN!
Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen in Christo Jesu - AMEN!