Predigt vom 30.11.1986 - Pastor Schnabel - 1. Advent - Jeremia 23, 5-8
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!
Liebe Gemeinde! In Israel lebte im 6. Jahrhundert vor Christus ein habgieriger, dummer König, der seiner eigenen Macht mehr traute, als den Geboten Gottes. Er hatte es dazu kommen lassen, dass sein Land geteilt wurde von den Babyloniern. Israel wurde zerstört. Jerusalem wurde zerstört. Die Menschen wurden verschleppt nach Babylon und nach anderen Ländern in die Fremde.
In dieser Situation befindet sich Israel, als der Prophet Jeremia das schreibt, was der Predigttext zu diesem 1. Advent ist. Da steht geschrieben:
"Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: "Der Herr unsere Gerechtigkeit".
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: "So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!", sondern: "So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte." Und sie sollen in ihrem Lande wohnen."
Jeremia wartet auf etwas, was fehlt. Jeremia wartet darauf, dass Gott einen tüchtigen König heranwachsen lässt, der aller Not ein Ende macht, und die Heimatvertriebenen Israels nach Hause bringt.
Zum Warten und Hoffen auf Hilfe gehört immer auch die erfahrene Not. Und die Hoffnung wird natürlich immer in vertrauten Bildern ausgedrückt. Wenn wir etwas in der Zukunft erhoffen, dann können wir’s nur ausdrücken in Bildern, die wir im Vorrat unseres Geistes haben, oder in unserer Geschichte.
Jeremia greift zurück auf David, der damals vor 500 Jahren gelebt hatte. So einen ähnlichen, wie den König David, sagt der Prophet, müsste Gott wieder schicken, der das Reich eint, und Gerechtigkeit schafft. Jedes Volk hat in seiner Geschichte bestimmte Gestalten, die den Stoff abgeben für Erwartungen. In der Geschichte unseres Volkes gibt es auch solche Gestalten, wie den David. Als Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts zerbröckelte und uneins war, da erinnerte man sich an den alten Barbarossa. Die Älteren von ihnen kennen vielleicht noch dies Gedicht: "Der alte Barbarossa, der Kaiser Friederich…".
Der hatte 600 Jahre vorher gelebt. Und er hatte ein großes Reich zusammengebracht. Er hat damals schon die Grundlagen für ein geeintes Europa geschaffen. Anfang des 19.Jahrhunderts, also auch etwa 600 Jahre später, erinnerte man sich; so einen müsste man haben. Einen, der Einigkeit, und Recht und Freiheit bringt. So sagte und dichtete man im 19.. Jahrhundert aus einer Not, aus einem Mangel heraus.
Erwartung muss immer Bilder haben, in denen sie sich darstellt. Und darum ist auch die Geschichte, auch der Geschichtsunterricht in den Schulen, so wichtig. Die biblischen Geschichten, weil sie uns Bilder geben, Bilder, mit denen wir unser Leben deuten können. Mit denen wir unsere Gegenwart begreifen und unsere Hoffnung und Erwartung zur Sprache bringen können.
Die ersten Christen in Israel haben auch die Bilder ihrer Geschichte benützt, um Jesus zu beschreiben. Sie haben gesagt: Er ist aus dem Stamme Davids. Ob der Stammbaum nun historisch stimmt, das ist dabei ganz unwichtig. Es geht allein darum, mit diesem Bild zu sagen; Er ist der, der uns herausführt aus der Krise, aus dem finsteren Tal, aus der Gemeinheit und aus dem Schlamassel, weg vom Abgrund, an dem wir uns befinden.
Die, von denen ich erzählt habe, die Generation vor uns, die hatten etwas, worauf sie achteten. Die hatten eine Sehnsucht, etwas, worauf sie hofften und warteten. Und diese Erwartung, die ergoss sich in bestimmte, bereitstehende Formen, die ihnen die Geschichte bot.
Worauf warten wir? Leben wir denn in Erwartung und Hoffnung? Warten und hoffen wir auf Christus?
Es hat sich da, glaube ich, eine Gefahr eingeschlichen, dass wir mit Jesus Christus so leben, als sei das mal gewesen und wir hätten’s kapiert, und inzwischen sei die Moderne darüber hinweggegangen. Und im Grunde sei es nur noch ein alter Hut, das Evangelium, die frohe Botschaft Gottes in Jesus Christus an uns. Doch plötzlich entdecken wir wieder, dass es da durchaus etwas zu erwarten gibt. Dass wir Christus noch gar nicht verstanden haben. Dass erst eine kleine, dünne, obere Schicht aufgedeckt ist. Dass also Christus immer noch im Kommen ist.
Um das zu erwarten, darum leben wir in Erwartung. Und in Erwartung leben, ist eine aktive Sache, voll Spannung und voll Kraft. Warten, heißt nämlich nicht, nichts zu tun zu haben, und zu gammeln und zu trödeln und die Zeit totzuschlagen, oder mit jedem mitgehen, der gerade vorbeikommt und uns irgendetwas anbietet. Wer wartet, der hat ein Ziel und einen Blick für das Wesentliche, worauf es ankommt. Wenn du jemanden auf dem Bahnsteig triffst, der da steht und wartet, dass ein Freund ankommt; der hat ein Ziel, der lässt sich nicht ablenken. Zu dem kannst du nicht sagen; wollen wir nicht dies oder das machen? Sondern der sagt; "Nein, ich warte, ich habe keine Zeit, ich muss warten!" Wer in Erwartung lebt, dem fehlt das, worauf er wartet. In Erwartung leben, heißt eben auch; einen Mangel leiden, sich sehnen nach dem, was noch nicht da ist, aber zu ahnen die Richtung, wo es herkommt. Man muss eben auch den Platz im Leben wissen, wo man warten muss. Man kann auch an einer falschen Stelle warten, wo nichts herunterkommt auf uns.
"Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern..." Wer soetwas dichtet; "Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern..." der lebt im Dunkeln und sehnt sich nach dem Licht des Tages. Noch sitzt er im Finstern, aber er wartet und vertraut fest darauf; es wird dämmern und hell werden, es bleibt nicht dunkel.
Es gibt jetzt gerade bei den Adventsliedern im Gesangbuch, und viele Worte in der Bibel, da ist immer vom Morgenstern die Rede. Früher, als noch nicht so viele Lampen auf der Straße brannten, als man Dunkelheit ganz nahe erlebte, da war der Morgenstern eine wichtige Orientierung für Fuhrleute. Und für Leute, die vielleicht nachts nicht schlafen konnten, die vielleicht krank waren und gepeinigt vom Schmerz. Da kann eine Nacht sehr lang werden, da ersehnt man den Morgen. Da guckt man zum Fenster raus. Und wenn man da den Morgenstern sieht, den Morgenstern, von dem so oft die Rede ist, "Der Morgenstern ist aufgegangen", oder; "0 Christe, Morgensterne..." Der Morgenstern, der zeigt mitten in der Nacht den neuen Tag an; dort, aus dieser Richtung wird das Licht kommen; "ex oriente lux". Darum ist Christus wie der Morgenstern in unserer Dunkelheit.
Und wer die Anzeichen des herannahenden Lichtes sieht, der lebt in Erwartung.
Erwartung - Kinder drücken das viel körperlicher aus - beim Warten, da kann man auch von einem Bein auf das andere hüpfen und sich freuen, und es eigentlich gar nicht mehr aushalten, so lange dauert das. Die Kinder warten auf Weihnachten, die können die Geschenke kaum erwarten. Erwarten, das ist soetwas ähnliches, wie erarbeiten und erleiden. Sie erwarten Weihnachten und freuen sich. Und in den Jahrhunderten hat sich das so eingebürgert, dass Kinder etwas geschenkt bekommen. "Morgen, Kinder, wird’s was geben, morgen werden wir uns freu’n." Noch einmal schlafen. Das fasziniert uns Erwachsene, die wir manchmal so müde sind; wenn Kinder in Erwartung bleiben.
Und das lässt uns auch fragen; worauf warten wir?
Wenn wir nur wirklich begreifen, was uns fehlt, welchen Mangel wir leiden, dann können wir auch sagen, worauf wir warten.
Die Gemeinde Christi, und die Gemeinschaft der Heiligen, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, die wartet darauf, das Gottes Reich kommt, und dass sein Wille geschieht, im Himmel, so auf Erden.
Die Jünger, von denen die Bibel erzählt, das waren eben nicht die Satten, die Fertigen, die nur noch erwarten, dass sie in Rente gehen, oder eine neue Küche kaufen, oder Vereinsvorsitzende werden. Die Jünger sind Suchende, die im Herzen diese Sehnsucht nach dem Ganzen haben. Und die sich hier nie richtig häuslich einrichten können. Als sie Jesus begegnen, gehen sie mit. Sie sind erst noch im Unklaren darüber, wer es ist, aber sie suchen und warten auf den, der das Wunder vollbringt, den Mangel ihres Lebens auszufüllen und sie haben die erste Ahnung; aus der Richtung könnte Er kommen - Er könnte es sein, der sie von den Fesseln löst, in die sie sich verstrickt haben.
Erst ist es ein Ahnen, eine Freude in Seiner Nähe; erfahrene Liebe. Das steigt dann an zu dem Höhepunkt, wo Petrus sagt - und es ist so, als sei er selbst darüber erschrocken - : "Du bist Christus! Du bist es, der den Mangel ausfüllt! Du bist der Erlöser! Du bist, der Gerechtigkeit und Frieden unter uns einlöst!" Das, wonach wir uns sehnen, aber nicht so recht daran glauben können, weil wir ja die Geschichte auch unserer eigenen Gemeinheit kennen, fällt es uns so schwer, daran zu glauben, dass Liebe und Gerechtigkeit einmal gelten sollen. "Du, der du Leiden und Schuld nicht gegeneinander aufrechnest; du, der du auf Gewalt verzichtest; du, der du mit den Verachteten an einem Tisch sitzt; du, der du die Liebe über alle Rechthaberei stellst und das selbst mit deinem Leben auch auslöst; du, der du Raum und Zeit durchbrichst, du bist es, der da ist und der da war und der da kommt!"
Auf dieses Bekenntnis des Petrus; "du bist es!", antwortet Jesus dem Petrus: "Darauf will ich meine Gemeinde bauen!"
Auf dieses Bekenntnis, auf diese Erwartung ist auch unsere Gemeinde gebaut; oder sie hat keinen Grund.
Seitdem gibt es zu allen Zeiten Verrückte, die in dieser Erwartung leben.
Und in den Augen der Welt, das sei euch klar gesagt, geltet ihr als ein bisschen verrückt, und ich gehöre natürlich auch dazu. Leute, die so eine merkwürdige Erwartung haben, dass es gut werden könnte mit uns. Aber wir glauben eben, dass wir das nicht aus uns selbst schaffen, sondern dass uns, die wir zuerst geliebt worden sind, dass uns diese Kraft zuteil werden kann, von außerhalb. Wir sind in den Augen der Welt die Versammlung derer, die behaupten; Er ist es, Er ist gekommen"
Wir sind gerade erst dabei, Ihn zu verstehen. Und hin und wider blinzeln wir auch immer in die andere Richtung und denken; müsste Er nicht doch im Glanz der Welt kommen? Aber Er kommt eben eher mit dem Fahrrad oder zu Fuß.
Vor 2000 Jahren ist Er gekommen. Und ihr Lieben, lasst es euch gesagt sein; das ist wie vorgestern in der Weltgeschichte. Die Bibel sagt sehr klug; 1000 Jahre sind vor dir, Herr, wie ein Tag.
Erst vor 2000 Jahren ist Er gekommen, und seitdem ist Er bei seiner Gemeinde in Wort und Sakrament; Taufe und Abendmahl.
Er ist gegenwärtig, Er ist zukünftig und Er ist vergangen Er hat die Zeit aufgehoben. Und im Lichte seiner Wahrheit erkennen wir, dass Zeit etwas sehr Merkwürdiges ist, was gar nicht so fest gemauert ist, wie wir es erleben.
Sein Geist arbeitet an uns. Wir begreifen ja jetzt langsam, dass wir am Abgrund leben. Wir Christen, die wir diese Hoffnung einerseits haben, begreifen andererseits, dass wir uns ja mit Kompromissen ab gepolstert haben. Aber immerhin wissen wir; es sind Kompromisse, es ist noch nicht das, worauf wir warten.
Und von Christus haben wir noch wenig verstanden. Er ist eigentlich für uns noch gar nicht da.
Und darum singen wir immer wieder: "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit". Türen und Tore unserer Herzen und Sinne, mit denen wir uns verbarrikadiert haben. Wir warten auf Ihn. Und ich glaube, dass die Zeit, in der wir jetzt leben, so günstig ist, wie keine andere, Ihn zu empfangen.
Denn wir leben in der Ratlosigkeit. Die Welt ist mit ihrem Latein am Ende. Und die selbstherrliche Machbarkeit der Menschen hat ausgespielt.
Und wir begreifen, dass nur ein Wunder uns retten kann. Und das Wunder ist geschehen in Christus. Wir warten, dass es zu uns dringt und unsere Herzen und Sinne überwindet. AMEN!
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesu Christo - AMEN!