Predigt 629

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Predigt vom 07.08.1988 - Pastor Schnabel - Röm. 9, 1-5 31-10,4

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen - AMEN!

Hört, was der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief im 9. Kapitel Paulus war Jude, Pharisäer, ein fanatischer Anhänger der Thora. Ihm ist Christus begegnet, da hat Paulus begriffen, dass Christus die Erfüllung des Gesetzes ist, und er leidet darunter, dass er sein Volk nicht hinüberrufen kann zu Christus; er schreibt:

"Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißung, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat es doch nicht erreicht. Warum das?Weil es die Gerechtigkeit nicht aus dem Glauben sucht, sondern als komme sie aus den Werken. Sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes, wie geschrieben steht (Jesaja 8, 14; 28, 16): »Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.«

Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht."

Gott segne an uns dieses Wort!

Ihr Lieben!

Man kann von den Juden genauso wenig sprechen wie von den Christen. So, wie es streng reformierte, praktizierende katholische, fromme lutherische Christen gibt, so gibt es auch orthodoxe und liberale und strenggläubige Juden.

Und so, wie ich Christen getroffen habe, die eigentlich gar nicht wissen, was sie eigentlich glauben, und sich doch Christen nennen, so kenne ich auch welche, die sich Juden nennen, und die auch nicht richtig wissen, was das ist.

Die Lauen im Geiste haben wir nicht zu verachten. Denn erstens sind wir selbst oft lau, und zweitens kann jeder Mensch viele Phasen in seinem Leben durchlaufen. Da kann einem der Glaube ganz fern sein, bis er auf dem Weg seines Lebens an eine Kreuzung kommt, wo der Geist aufleuchtet und man Trost und Rettung findet.

Paulus ist Jude. Er verfolgt die Christen und wird dabei zu Christus bekehrt. Die Erlösung, die er dabei erfährt, möchte er seinem Volk mitteilen. Und darum fragt Paulus, wenn er in eine fremde Stadt kommt, immer zuerst: Wo ist hier die Synagoge? Und er geht in die Synagoge und weist sich aus, sagt: Ich bin einer von euch, ich bin ein Jude. Und dann predigt er Christus. Mit wechselndem Erfolg; mal finden sie zu Christus oder sie jagen ihn weg.

Für Paulus ist Christus die Erfüllung des Gesetzes, das Ziel, von dem die Propheten immer sprachen. Was immer ferne in der Zukunft, im Nebel lag, das ist in Christus hell von Gott entgegengekommen auf die Menschen. ER ist der Messias, ER ist der Heiland, in dem sich Gott klar wie nie zuvor erkennen lässt. ER ist, - wie es in dem Lied heißt: - die Rose, die aus der Wurzel Jesse entsprungen ist. "Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart …" Die Wurzel, das ist das alte Israel mit Jesse, dem Stammvater Davids. Und aus dieser alten Wurzel ist die Rose Jesus entsprungen.

Paulus, der Jude, der dem Gesetz folgt, erfährt in Christus die frohe Botschaft; die Erlösung und die Befreiung. Und das ist eben nicht so, wie wenn jemand vorher keine Erfahrung mit Gott hat, und dann das erste Mal Gott begegnet, sondern Paulus und sein Volk Israel, die haben ja schon eine Geschichte mit Gott, aber die geht nun in Christus weiter und weitet sich aus und ist für alle Menschen da. Was Gott in dem Volk Israel begonnen hat und immer in neuen Anläufen vorantrieb, das findet jetzt in Christus seine Erfüllung.

Wir Christen haben das gleiche Gesetz, die Gebote, wie die Juden. Es gilt genauso für uns, aber es ist in Christus erfüllt. Und so leben wir Christen zwischen Gesetz und Evangelium. Das Gesetz, die Gebote, die wir vorhin in der Beichte uns wieder vor Augen gehalten haben, das ist die Forderung Gottes und der Anspruch. Und das Evangelium ist die Liebe Gottes, die uns befreit und erlöst und uns immer wieder sagt: Ihr bleibt hinter dem Gesetz zurück, aber ihr sollt euch auch nicht rechtfertigen mit dem Gesetz, sondern die Liebe ist größer, als die Gerechtigkeit.

Wir Christen haben die Judenbibel, das Alte Testament; das haben wir gemeinsam. Aber dazu haben wir eben auch die Christenbibel, das Neue Testament. Das ist das neue Vermächtnis Gottes. In den meisten Bibeln, die wir haben, sind beide gleich zusammengebunden. Sie sehen aus wie ein Buch, obwohl sie eben Teil 1 und Teil 2 sind. Juden und Christen sind sozusagen wie zwei Leute, die den ersten Band des gleichen Fortsetzungsromans gekauft haben. Die Juden haben den ersten Band und warten auf den zweiten Band. Wir Christen haben den ersten Band und wir haben den zweiten Band von der Fortsetzung dieser Heilsgeschichte schon bekommen. Wir Christen haben die Fortsetzung. Wir versuchen, den Juden diese Botschaft zu bringen und sagen: Das ist die Fortsetzung von Gottes Heilsgeschichte! Und die Juden schauen rein und sagen: Das kann es nicht sein! Nein, das kann es nicht sein! Insofern sind wir Christen mit den Juden eng verwandt. Über das meiste können wir uns gut verständigen. Bedenkt einmal die Lieder, die wir heute gesungen haben -bis auf das letzte Abendmahlslied-, das sind alles Psalmlieder; nach gedichtete Psalmen aus dem Alten Testament. Den Sinn dieser Lieder kannte Jesus schon als Kind; diese 150 Psalmen kannte er auswendig. Das verbindet uns mit den Juden. Jeder Jude kann sie von Herzen singen und wir können sie von Herzen singen. Und wer in der Synagoge Gottesdienst feiert, der wird erstaunt sein, was ihm alles vertraut ist.

Ich habe ein Bild kopiert, schaut das bitte an. Es ist erstaunlich und fasziniert mich immer wieder, dass diese beiden Figuren aus dem frühen 13. Jahrhundert stammen; etwa 1230. Diese Gestalten sehen wir am Portal im Straßburger Münster. Diese schönen Frauengestalten, in Stein gehauen, stellen links die Kirche und rechts die Synagoge dar. Sie stehen nah beieinander. Links, das ist die Ecclesia, das griechische Wort für Kirche Sie hat den Kelch des Abendmahls in der linken Hand und das Kreuz Christi in der rechten und sie trägt eine Krone auf dem Kopf. Christus, der König, der auferstanden ist. Und rechts die Synagoge; auch als Frau dargestellt. Sie hat eine zerbrochene Lanze in der Hand, das heißt - wie es schon fast sprichwörtlich ist - dem Gesetz ist die Spitze abgebrochen. In der anderen Hand hält sie ein Stück Papier; die Gebote - das Gesetz. Der Bildhauer hat der Synagoge eine Augenbinde umgetan, das heißt; die Synagoge kann nicht sehen. So wie wir es im Evangelium gehört haben: "Jerusalem, wenn du doch erkenntest, was zu deinem Heil dient." Die Synagoge kann es nicht sehen. Ergreifend daran ist, dass diese beiden anmutigen und liebreizenden Frauen sich so gleich sind, und dass man eigentlich der schönen Synagoge nur die Augenbinde abzunehmen brauchte und ihr statt der zerbrochenen Lanze einen Kreuzstab in die Hand zu geben, und statt des Papier’s einen Kelch, dann wäre Synagoge auch Ecclesia; die Kirche. Es trennt die beiden gar nicht so viel voneinander. Kirche und Synagoge sind verwandt.

Und Paulus bezeugt den Juden: Sie haben Eifer für Gott, aber ohne Einsicht. Sie sind Kinder Gottes, sie haben das Gesetz, sie haben den Gottesdienst, die Verheißung der Propheten, aber sie verstehen es nicht, dass Christus die Erfüllung dessen ist. Die Einsicht, die ihnen fehlt, ist Christus.

Und wir Christen haben diese Einsicht nur durch Christus. Das heißt: Wir haben sie nicht wie einen Besitz, nicht etwas, auf dem man fett und bräsig drauf sitzt, sondern wir haben diese Einsicht wie ein Licht, das von Christus herkommt, das uns nicht gehört, das uns erleuchtet.

Christus ist der Stein des Anstoßes, an dem Israel stolpert. Wie sie mit dem Gesetz umgehen, das ist der springende Punkt; das ist das, was uns trennt. Da geht es darum, dass sie die Gebote benutzen, um daran abzulesen, wie gerecht sie vor Gott sind. Sie verklagen Gott. Sie legen die Gebote an und aus und ermessen ihre und anderer Gerechtigkeit vor Gott.

Nun ist das schwer zu verstehen. Wir Christen bestehen ja auch auf den Geboten, weil Christus auf den Geboten bestanden hat. Er hat sie ja nicht weggewischt. Er hat gesagt:

Das Gesetz muss erfüllt werden! Es ist Gottes Forderung, es gilt! Aber - und das ist der Unterschied - das Gesetz macht uns nicht gerecht. Unsere noch so guten Werke können uns nicht gerecht machen, und wer die Gebote dazu benutzt, um abzulesen wie gerecht er ist und was er von Gott fordern kann, der missbraucht sie.

Wir sollen die Gebote als gültig über uns bezeugen, aber rühmen können wir uns damit nicht. Sie berechtigen uns zu nichts! Gerecht sind wir alleine aus dem Glauben. Christus macht uns gerecht. Er ist das Ende des Gesetzes. Die Lanze des Gesetzes ist zerbrochen. Das Gesetz ist Gottes Gebot, aber es tötet uns nicht. Die Gebote gelten, aber wir können sie nicht erfüllen. Wir sind Sünder, aber wir sollen leben.

Wir kommen aus eigener Kraft nicht zu Gott, aber Christus kommt zu uns.

Was immer wir tun, es kann uns nicht bestätigen und nicht rechtfertigen. Aber es kann uns um Christi willen auch nicht verdammen.

Die erlösende andere Seite besteht darin, dass wir uns weder bestätigen noch rechtfertigen müssen durch unsere Taten. Der Grund unseres Lebens liegt woanders, er liegt in der Liebe Gottes und dass wir Gottes Kinder sind.

Wir sind dazu befreit, die Selbstrechtfertigung sein zu lassen. Denn wir wissen doch, dass wir bei jedem Versuch, das Gute und Richtige zu tun, Gottes Vergebung brauchen. Das ist der Unterschied.

Paulus bezeugt den Juden; sie haben Eifer für Gott, aber ohne Einsicht. Das kann uns allerdings nicht zur Arroganz erheben, denn man könnte dieses Wort auch umdrehen und sagen: Wir Christen haben in Christus Einsicht in das, was Gott will, aber uns fehlt der Eifer.

Glaubt nur ja nicht, dass das Thema .des Gesetzes für uns Christen erledigt wäre. Die Heilsgeschichte, die Luther mit Christus erfahren hat, geht ja ebenso. Er war auch ins Gesetz verstrickt, bis er erkannte: Ich kann mich nicht rechtfertigen durch das Gesetzeswerk. Martin Luther war dem Gesetz verfallen wie Paulus. Er quälte sich, es zu halten und schaffte es nicht. Bis er Christus erkannte. Und es ist interessant, dass Martin Luther gerade an dem Text, den wir heute gelesen haben aus dem Römerbrief im 9. Kapitel, dass er gerade an dieser Stelle zur Einsicht kam.

Durch den Glauben bin ich gerecht und nicht durch das Gesetzes Werk.

Ein Letztes noch: Jesus hat uns ja gelehrt, das Vaterunser zu beten. Die Jünger haben ihn mal gefragt: Wer ist denn Gott und wie sollen wir denn zu Gott beten? Da hat Jesus gesagt: So sollt ihr beten: "Vater unser!" Und schon mit dieser Anrede hat er ganz dicht zusammengefasst, dass das Gesetz uns nicht rechtfertigen kann. Denn Jesus hat ja immer, wenn er von Gott sprach, Bilder aus dem täglichen Leben entnommen. Und wenn er nun zu Gott "Vater" sagt, dann meint er damit; dein Verhältnis zwischen dir und Gott ist wie zwischen einem lieben Vater und seinem Kind.

Ihr wisst doch; Eltern lieben ihre Kinder, ob sie die Gebote halten oder nicht. Eltern setzen doch den Kindern Gebote und sagen: Das sollst du tun, und sie schimpfen und sie explodieren; fünfmal habe ich’s dir gesagt und du hast es wieder nicht getan! Aber an der Liebe ändert das nichts, sie bleibt, sie bleiben die Kinder.

Vater und Mutter geben den Kindern Gebote, aber diese Gebote sind ja nicht zur Rechtfertigung da. Kein Kind hält immer die Gebote der Eltern, aber es bleibt das Kind der Eltern, die das Kind liebhaben, ob es die Gebote hält oder nicht. Die Liebe der Eltern hängt nicht davon ab.

Genauso absurd ist es, wenn ein Kind unterwürfig darauf lauert, alles richtig zu machen um dann zu gehen und zu sagen: So, lieber Vater und liebe Mutter, ich haben jetzt Anspruch auf eure Liebe! Das wäre töricht. Oder wenn ein Kind sein Taschengeld sparen würde und zur Mutter sagen würde: Hier hast du zehn Mark, ich will dich für deine Liebe bezahlen. Das geht doch gar nicht!

Gebote sind nicht dazu da, uns zu rechtfertigen. Wir finden uns erst mal vor als Gottes geliebte Kinder, und dann gelten die Gebote. Aber nicht zur Rechtfertigung.

Wer an Christus glaubt, wer diese Botschaft von Gott, dem Vater, mit dem Herzen vernommen hat, der ist gerecht.

Wenn Christus in uns durch seinen Geist die Gebote erfüllt, dann sind wir selig. Aber dann können wir uns nicht mehr rühmen, dann können wir nicht sagen: Lieber Gott, hier bin ich, ich habe die Gebote gehalten! Sondern dann ist es Christus in mir, und dann kann ich auch nur in Dankbarkeit oder Ergebung beten und bin nicht wieder in diesen Teufelskreis hineinzuziehen, wo ich leide, wenn ich’s nicht geschafft habe, oder hochmütig werde, wenn mir mal etwas gelungen ist.

Uns Christen gelingt eigentlich von uns aus gar nichts, sondern Christus lebt und wirkt durch uns; in IHM leben und weben und sind wir, und das macht uns frei; frei, dass wir uns nicht mehr rechtfertigen müssen.

Und das ist die gute Botschaft, die wir der Welt schulden und auch dem Volk Israel, die allzu oft in den Sachzwängen verstrickt und verhaftet sind, in dem Zwang der Selbstrechtfertigung.

Wir haben den Schwestern und Brüdern in der Synagoge diese Botschaft zu bringen. Aber wir können zu ihnen nicht von oben herab reden, sondern wir können zu ihnen nur so reden, wie wenn sich auf der Straße zwei Bettler treffen und der eine hat ein Stück Brot und sagt dem anderen: Da musst du mit hinkommen, da wirst du beschenkt, da wirst du satt und da gibt es das Brot des Lebens - AMEN!

Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere menschliche Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christu Jesu - AMEN!